Ein Elefant und viele Fragezeichen

Zur Biopolitik des 21. Jahrhunderts

Von Alexander KisslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Kissler

Die Zeit, die mir dankenswerterweise zugesprochen worden ist, möchte ich nutzen, um vor Ihnen und mit Ihnen über zwei Begriffe nachzudenken. Es handelt sich um ein Begriffspaar, das mir typisch zu sein scheint - typisch für das Studium, zumal in Marburg, typisch für den Beruf, der nach dem Studium sich meiner bemächtigt hat, und, in letzter Konsequenz, auch typisch für mich. Da ich kein allzu berufener Interpret meiner selbst bin, möchte ich diese persönliche Dimension hier eher andeuten denn ausformulieren. Anders verhält es sich mit dem Studium. Geradezu unmöglich ist es, nach vier, fünf oder sechs Jahren an verschiedenen Universitäten kein Experte für alles zu sein, was sich hinter den Mauern der Institute abspielt - und das heißt: ein Experte für Studienregeln, Bibliotheksregeln, Hausarbeitsregeln, Referatsregeln, Mensaregeln, Kopierregeln. Trotz dieser mal hemmenden, mal anspornenden Strukturen schenkt das Studium immer wieder Momente verdichteten Lebens, wie sie nach dem Studium weitaus seltener erfahren werden. Seminare mit eher spröden Titeln entwickeln sich plötzlich - und sei es nur für Minuten - zu aufregenden Denklaboren. Probleme, von deren Existenz man nichts ahnte, werden durch einen prägnanten Satz oder eine überraschende Formulierung, durch einen Witz, eine Frage, eine Doppeldeutigkeit schlagartig zu Problemen des eigenen Innern. Man glaubt den Schlüssel in der Hand zu haben für ein Welträtsel. Man glaubt, sich seiner Sache völlig sicher zu sein, man will das blitzartig Gewusste oder nur genial Geahnte allen mitteilen, es hinausschreien in die Welt. Mit einem Wort: man wird tollkühn, man wird, so wäre das im 17. Jahrhundert entstandene Wort wohl zu übersetzen, auf erstaunliche, ausgelassene Weise kühn.

Doch ach, Probleme sind Herdentiere; hat man nur einem die Tür geöffnet, ist man bald nicht mehr Herr im eigenen Seelenhaus. Die nächste, gänzlich unverständliche Frage folgt auf den Fuß; das nächste todlangweilige Referat, der nächste übelgelaunte Dozent nehmen der Tollkühnheit die Luft zum Atmen. Statt ihrer legt sich, bleiern und träge, eine andere Empfindung über unsere Sinne: die Vergeblichkeit. Und eben dieses immerwährende Wechselspiel aus Tollkühnheit und Vergeblichkeit, aus Vergeblichkeit und Tollkühnheit scheint mir typisch zu sein für Studium und Beruf, und vielleicht auch für die Pause dazwischen, die sich Leben nennt.

Tollkühnheit überfiel mich, als Anfang Juni eine Bitte an mich herangetragen wurde. Es war einer der ersten heißen Tage eines langen, wolkenfreien Juni, an dem die Alma mater mich zu sprechen wünschte. Ende Juli, so schall es aus dem Telefon, finde die jährliche Absolventenfeier statt. Mein Name sei gefallen. Ob ich denn am Mittwoch, dem 23. Juli 2003, schon etwas vorhabe. Wahrheitsgemäß erwiderte ich, dass ich kurz zuvor aus dem Sommerurlaub zurückkehren werde. Ich sagte zu, einen Vortrag in der Alten Universität zu halten. Der Grund meiner unmittelbar darauf einsetzenden Tollkühnheit war ein kurzer Satz meines Gesprächspartners am Telefon: "Reden Sie, worüber Sie wollen." Mein Kopf begann zu schwirren: Worüber - ich - will! Soviel Gestaltungsfreiheit, soviel Einflussmöglichkeit musste verarbeitet werden. Ich würde, wie man in früheren Jahrhunderten sagte, reden vor den besten und edelsten jungen Menschen, vor der akademischen Elite zumindest Marburgs, wenn nicht ganz Hessens, ja Deutschlands. Ich malte mir aus, welch flammendes Signal von Oberhessen ausgehen würde! Die Welt würde eine andere sein nach dieser Marburger Rede! Die Welträtsel wären endgültig gelöst! Trunken ob dieser gewaltigen Dimensionen wurde ich unvernünftig: Ich ging des Mittags in einen Biergarten, bestellte einen Grünen Veltliner und eine Portion Grillbraten und wies mir gedanklich einen Platz zu in der langen Reihe berühmter Marburger Redner.

Als der Grillbraten auf dem Tisch stand, dachte ich an den 6. Februar 1927. Damals hatte Rudolf Borchardt im Großen Hörsaal des Landgrafenhauses auf Einladung der "Literarischen Gesellschaft" einen Vortrag gehalten. Dass mir zuerst der Erzähler, Lyriker, Übersetzer, Dramatiker, Essayist und - vor allem - der brillante Redner Rudolf Borchardt in den Sinn kam, verdankt sich einer anderen Tollkühnheit. Im Sommersemester 1996 hatte ich im Rahmen eines Hauptseminars die ersten Zeilen aus Borchardts umfangreichem Werk gelesen. Es war beileibe keine Liebe auf den ersten Blick, doch je tiefer ich hinabstieg in dieses literarische Bergwerk, desto reicher beladen kehrte ich zurück. Wer die Kulturgeschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik aus erster Hand, wer das Dritte Reich aus der Perspektive eines konservativen Anarchisten kennenlernen will, der kurzzeitig mit Mussolini und Hitler sympathisierte, dann aber als Sohn getaufter Juden und überzeugter Europäer um sein Leben bangen musste und 1944 fast deportiert worden wäre, der sollte, der muss zu Borchardt greifen. Mit einer Arbeit über Rudolf Borchardt bin ich hier in Marburg promoviert worden. Die Dissertation trägt den Titel "Wo bin ich denn behaust? Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs".

Am 6. Februar 1927 sprach Borchardt über "Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts". Ebendiese bestand für ihn primär in den Leistungen Herders und der Romantik. Borchardt wörtlich: "Die Romantik, die von vielen noch für eine Form der deutschen Poesie gehalten und mit Sonetteschreiben und Traumerscheinungen verwechselt wird, ist eine Epoche der Weltgeschichte, in der wir mitten inne stehen und deren Ende kaum unsere Enkel erleben wird." Borchardts drei Söhne leben allesamt noch, ebenso seine Enkel. Doch wer wollte das beginnende 21. Jahrhundert romantisch nennen - romantisch im Sinne Herders und Borchardts, die darunter die Überwindung der Grenzen von Poesie und Wissenschaft verstanden? Borchardt selbst nannte sich einen "dankbaren Sohn der aus dem Geiste der Romantik wiedergeborenen deutschen Universität." Schon die Zeitgenossen hatten ihre Zweifel: Die "Oberhessische Presse" stellte am 10. Februar 1927 die "offene Frage", ob hier nicht "eine neu-romantische Flucht aus der harten Notwendigkeit unserer Tage" vorliege. Andererseits lobte sie Borchardts "grandiosen Versuch, in sehr ernster, gewissenhafter Arbeit Rechenschaft zu geben über die Vergangenheit als Dienerin des kommenden Lebens". Wenige Besucher hatten jedoch dem "grandiosen Versuch" beigewohnt, und wer die Lebensgeschichte Borchardts und die Geschichte der Weimarer Republik betrachtet, kommt nicht umhin, Borchardts Marburger Rede den causae victae zuzuordnen - den von der Geschichte besiegten Dingen. Womit das tollkühne Unterfangen letztlich in Vergeblichkeit gestrandet wäre.

Als der einigermaßen saftige Grillbraten verzehrt worden war, der Veltliner aber noch grün im Glase schimmerte, wagte ich einen zweiten Versuch. Es muss sie doch gegeben haben, die leidenschaftliche, kluge Marburger Rede, an deren Ende Marburg in aller Munde und der Redner in aller Köpfe war! Ich dachte an den 29. April 2000. Damals hatte ich selbst im dicht gefüllten Auditorium Maximum gesessen und den Ausführungen über ein ähnlich weitgespanntes Thema gelauscht. Der Göttinger Politologe Bassam Tibi referierte über europäische und globale Werte. Tibi rief die Europäer dazu auf, sich nicht länger selbst zu verleugnen, sondern mit den außereuropäischen Kulturen einen echten Dialog zu führen - und das hieße: ethische Konflikte ehrlich auszutragen. Im Europa der Renaissance sei es gelungen, sich auf dem Boden des Humanismus friedlich zu streiten. Diese europäische Kernkompetenz müsse an die Stelle eines diffusen Multikulturalismus treten. Dann sei eine "internationale Moralität" möglich. Bassam Tibi erinnerte an Kaiser Karl den Großen. Dieser habe sich mit Kalif Harun al Raschid ausgetauscht. Der Kalif schickte sogar einen Elefanten nach Aachen als Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung.

Bassam Tibis Plädoyer erklang vor und nach Marburg an anderen Orten, bei Podiumsdiskussionen und in Talkshows. Insbesondere nach dem 11. September 2001 verging kaum ein "heute-journal", kaum eine Ausgabe der "Tagesthemen", ohne dass Bassam Tibi aus Göttingen live zugeschaltet worden wäre. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center wiederholte Tibi als Rufer in der Wüste seine Forderungen nach einem europäisch-islamischen Dialog und einem neuen europäischen Selbstbewusstsein. Doch in den Tagen nach dem 11. September war das weltpolitische Klima solchen Botschaften nicht günstig gesonnen, und Tibi selbst wurde eher als Experte für islamistischen Terrorismus befragt. Nein, auch von dieser Marburger Rede ging kein Ruck aus. Nach dem 11. September klang sie - ohne ihr eigenes Zutun - seltsam nostalgisch. So erschien es mir, als ich zahlte und unter dem Eindruck fortgesetzter Vergeblichkeit den Biergarten verließ.

Rudolf Borchardt und Bassam Tibi zielten beide den großen Wurf an. Sie blickten in neunzig Minuten auf eine in Jahrhunderten zählende Geschichte, auf Mittelalter, Renaissance, Frühe Neuzeit, Romantik - darunter sind Marburger Reden offenbar nicht zu haben.

Vielleicht aber sind die Abstürze in die Vergeblichkeit der Preis für ein derart tollkühn-großartiges Panorama? Vielleicht wendet sich der, mit Borchardt gesprochen, "Rächerblick der Ewigkeit" vorzugsweise gegen jene, die in Ewigkeiten oder zumindest in Epochen denken? Vielleicht sollte eine Marburger Rede, die über den Tag hinaus wirken will, ihren Gegenstand eng begrenzen, ihre Worte zähmen und die Lust am Prophetischen zügeln? Ich dachte an den 28. Juni 2001. Damals stand an dieser Stelle, an der ich nun stehe, ein ungleich prominenterer Zeitgenosse. Ein schwieriges, spröde formuliertes Thema hatte der prominente Zeitgenosse sich vorgenommen. Es lautete: "Der Streit um das ethische Selbstverständnis der Gattung". Die Alte Aula war bis zum Bersten gefüllt. Lautsprecher übertrugen die Rede in die angrenzenden Räume. Überregionale Zeitungen zuhauf waren erschienen. An jenem 28. Juni 2001 war ich erstmals für meinen neuen Arbeitgeber, die "Süddeutsche Zeitung", im Einsatz - auch für mich war der heiße Donnerstag alles andere als ein normaler Tag. Die Rede hielt, was sie versprach: Der "Streit um das ethische Selbstverständnis der Gattung" war nämlich die erste öffentliche Stellungnahme des Philosophen Jürgen Habermas zur damals brandaktuellen Debatte über die Biomedizin.

Jürgen Habermas ließ keinen Zweifel an seiner, so wörtlich: "Beunruhigung" angesichts der neuesten Entwicklungen in der biotechnologischen Forschung. Er verspüre eine "ethische Hemmung gegen die Präimplantationsdiagnostik" und einen "Abscheu vor verbrauchender Embryonenforschung". Bei der Präimplantationsdiagnostik PID werden bekanntlich menschliche Embryonen, die im Reagenzglas künstlich erzeugt wurden, vor ihrer Einpflanzung in die Gebärmutter einem "Gen-Check" unterzogen. Nur solche künstlich erzeugten Embryonen, die keine genetischen Belastungen aufweisen, werden sodann implantiert. Embryonen, die den "Gen-Check" nicht bestehen, werden vernichtet. In Deutschland ist die PID bisher verboten, doch nicht nur Jürgen Habermas befürchtet, dass sie auf Dauer nicht aufzuhalten sein wird. Mit der PID wäre jedoch der Einstieg in die Selektion lebenswerten und lebensunwerten menschlichen Lebens vollzogen. Die Begrenzung auf schwere genetische Defekte ließe sich nicht aufrechterhalten, die PID würde zur Routine, um den Eltern einen Nachwuchs nach Wunsch zu gewährleisten. Die Zahl künstlicher Befruchtungen schnellte in die Höhe, wer sich dagegen sperrte, müsste sich rechtfertigen. Die Eltern behinderter Kinder wären einem steten Vorwurf ausgesetzt: "Sowas" muss doch heute nicht mehr sein, werden sie zu hören bekommen, und "sowas" meint ihr zur Geburt gebrachtes statt vorgeburtlich getötetes Kind.

Habermas argumentierte in seiner Rede nicht, wie sonst üblich, mit dem Lebensrecht des Embryos und der Würde des menschlichen Lebens. Er forderte vielmehr, "den Embryo in Antizipation wie eine zweite Person zu behandeln, die sich verhalten könnte." "Bürger Embryo" war denn auch der Bericht in einer Zeitung zwei Tage später überschrieben. Entscheidungen können, so Habermas, nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn wirklich alle Betroffenen an ihrem Zustandekommen beteiligt sind. Der Embryo kann sich nicht äußern. Aus diesem Grund müssen die Menschen die Entscheidung des Embryos antizipieren; dass jemand - und sei es ein Embryo - seiner eigenen Tötung zustimmt, kann ausgeschlossen werden. Ergo habe die PID zu unterbleiben, da sie bei einer negativen Diagnose die Vernichtung des Embryos vorsieht.

Die in Marburg ansässige "Bundesvereinigung Lebenshilfe", die gerade das Projekt "Genopolis - Wollen wir den Menschen nach Maß?" gestartet hat, und auch die Ärzte-Vereinigung "Marburger Bund" argumentieren etwas anders, gelangen jedoch zu dem selben Ergebnis: Der Mensch ist auch in seiner frühen Lebensform absolut schützenswert.

Die nunmehr zwei Jahre, die ich im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" beschäftigt bin, haben mich je länger je intensiver mit dieser Problematik vertraut gemacht. Ich bin der festen Überzeugung, dass kein Thema stärker, dramatischer und irreversibler unser Zusammenleben bestimmen wird, als es die Biotechnologie im 21. Jahrhundert tun wird. Darum müssen gerade im Feuilleton als der Stätte des Nachdenkens über den Menschen die biotechnologischen Entwicklungen kritisch begleitet werden. Die größte Gefahr droht nämlich nicht von skrupellosen Wissenschaftlern wie jenen im Umfeld der Raelianer-Sekte oder dem geltungssüchtigen italienischen Reproduktionsmediziner Severino Antinori. Das Klonen von Menschen wird aller Voraussicht nach noch sehr, sehr lange technisch unmöglich sein. Auch dürften die Abermillionen Dollars, die solche Experimente verschlingen, auch von der zahlungskräftigsten Kundschaft nicht aufzubringen sein.

Die größte Gefahr für unser Zusammenleben droht vielmehr von einer Allianz aus Forschungseuphorikern und Industrielobbyisten, die einer unzureichend informierten, manchmal auch desinteressierten Öffentlichkeit so lange Sand in die Augen streut, bis jegliche Debatte zu spät ist, da die Fakten längst geschaffen sind. Auf keinem anderen Politikfeld ist es so leicht, einer fragwürdigen Minderheitenmeinung Geltung zu verschaffen, wie auf dem Gebiet der Biopolitik. Da können Parlamente - wie etwa der Deutsche Bundestag - mit noch so überwältigender Mehrheit das Forschungsklonen ächten und die verbrauchende Embryonenforschung unter Strafe stellen, entschieden wird dennoch im gegenteiligen Sinn.

Die jüngste Etappe auf der nach oben offenen Skala der politischen Dreistigkeit wurde Anfang Juli zurückgelegt. Wie jeden Mittwoch waren die 20 Kommissare der Europäischen Union, sozusagen die Regierung der EU, zusammengekommen, um über ein strittiges Thema zu beraten. Auf dem Tisch lag eine Vorlage des belgischen Forschungskommissars Philippe Busquin. Diese Vorlage sieht ab Januar 2004 eine großzügige finanzielle Förderung der Embryonenforschung vor. Mit EU-Geldern sollen jene Experimente unterstützt werden, bei denen menschliche Embryonen getötet werden, um aus ihnen Stammzellen zu gewinnen. Diese Stammzellen könnten - vielleicht, irgendwann - dazu beitragen, genetische Defekte wie Alzheimer oder Parkinsson zu therapieren. Weltweit sind derzeit 62 sogenannte Stammzell-Linien für die Forschung verfügbar. Einer der Pioniere der Stammzellforschung, Hans R. Schöler, gebürtiger Deutscher, tätig in Pennsylvania, hat erklärt, bereits fünf Stammzell-Linien seien völlig ausreichend; die Grundlagenforschung stehe hier noch sehr am Anfang.

Dennoch empfiehlt die Vorlage Busquins die massenhafte Tötung hunderter, tausender, ja hunderttausender Embryonen, um die Forschung rapide voranzutreiben. Fatalerweise haben auf der skandalösen Sitzung am 8. Juli die 20 EU-Kommissare die Vorlage durchgewunken - auch die deutschen Kommissare Michaele Schreyer und Günther Verheugen. Sie sind folglich damit einverstanden, dass mit deutschen Steuergeldern - jeder fünfte Euro des EU-Haushaltes stammt aus Berlin - Versuche finanziert werden, die in Deutschland unter Strafe stehen. Das deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet ausdrücklich die Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken. Geht es nun nach dem Willen Michaele Schreyers und Günther Verheugens - insgeheim auch nach dem Willen des Bundeswirtschaftsministers und des Bundeskanzlers - dann belohnen vom 1. Januar 2004 an deutsche Steuergelder Experimente, für die man in Deutschland mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen hätte.

Im Lichte des 8. Juli 2003 muten mir die zahlreichen, auch die eigenen journalistischen Versuche, einen biopolitischen Amoklauf zu stoppen, reichlich tollkühn an. Die "Unterwerfung von Leib und Leben unter die Biotechnik", die Habermas befürchtete, schreitet mit gewaltigen Schritten voran. Doch von dieser wie von jeder Vergeblichkeitserfahrung darf der Mensch sich nicht schrecken lassen. Vergeblichkeit macht hungrig auf neue Versuche, dem Lauf der Welt oder wenigstens dem eigenen Leben eine andere Richtung zu geben. Vergeblichkeit ist die Pause zwischen zwei tollkühnen Plänen: Rudolf Borchardt schrieb bis zum letzten Atemzug, Bassam Tibi glaubt fest an den europäisch-islamischen Dialog, und im November geht das biopolitische Ringen in eine neue Runde. Dann muss der EU-Ministerrat die Vorlage der EU-Kommission bestätigen oder aber zurückweisen. Noch einmal, noch ein vermutlich allerletztes Mal kann die "Unterwerfung von Leib und Leben unter die Biotechnik" verhindert werden. Sonst hätten Gesetzesbruch, Forschungseifer und die Jagd nach dem Rohstoff Mensch, was auch ich nun unwiderruflich habe: das letzte Wort.

Festrede bei der Absolventenfeier des Fachbereichs 9 der Philipps-Universität Marburg, gehalten am 23.7.2003 in der Alten Aula