Unwiderstehliche Verlockung zum Abenteuer

Die faszinierende Ethnographie des Wunderbaren bei François Place

Von Wilfried von BredowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilfried von Bredow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Welt ist ein Buch. Alles, was wir über die Welt wissen, ist irgendwo aufgeschrieben. Heißt das, dass wir alles, was wir über die Welt erfahren möchten, in Büchern lesen können? Dagegen sträubt sich unsere Sehnsucht nach Abenteuern. Eines der ersten Hefte von "Literaturen", dem "Journal für Bücher und Themen", widmete sich dem Schwerpunkt "Die letzten Abenteuer". Abenteuer-Bücher sind wieder einmal in Mode geraten. Gar nicht merkwürdig, dass dabei so häufig Melancholie und eine mit ein bisschen Neid angereicherte Nostalgie ins Spiel gebracht werden. Aber müssen es denn immer die "letzten" Abenteuer sein, von denen die Rede ist? Wir stehen doch weder am Ende der Geschichte noch am Ende der Abenteuer. Die Welt ist keineswegs weg-entdeckt, nur weil es keine weißen Flecken mehr auf der Weltkarte gibt. Wie Alice im Wunderland geraten wir in jedem Raum, den wir betreten haben, immer wieder vor Türen, die in Unbekanntes führen.

In den Büchern über die Welt steht aber nicht nur, was wir von ihr wissen, sondern auch Unbekanntes, Rätselhaftes, Geheimnisvolles. Diese fesseln uns am meisten, denn sie sind nichts anderes als Einladungen zu Abenteuern.

Auch früher sind die wenigsten Zeitgenossen selbst nach China gesegelt. Die sengende Hitze der Wüste, die blaue Kälte der Antarktis oder die erstickende Feuchtigkeit des Tropendschungels, das wollen immer nur nur wenige am eigenen Leibe erfahren. Wem das Gewicht der Regulationen des Alltagslebens einen faden Geschmack im Munde macht, mag sich heute mit ein paar genormten Extra-Sensationen aus dem Reiseprospekt der Abenteuer-Urlaubs-Veranstalter erfrischen, der Simulation von Freiheit und Lebensrisiko. Das hält nicht lange vor.

Es gibt eine bessere Methode. Die Abenteuer, die uns in unserer vertrauten Umgebung den Atem einschnüren, das sind Geschichten von Abenteuern. Wenn sie gut erzählt und niedergeschrieben sind, locken sie unsere Phantasie in eine Geographie, die wir ansonsten nie betreten würden. Und was wir dort erleben, prägt sich unserem Gedächtnis in seiner tiefsten Schicht ein.

Für die Spitzenprodukte unter den Abenteuergeschichten macht es keinen Unterschied, wer sie liest. Erwachsene und Jugendliche, Männer und Frauen, Vielleser und solche, die sonst kaum jemals ein Buch in die Hand nehmen, sie alle unterliegen der Faszination des Gefährlichen und Wunderbaren. Die Bücher von François Place gehören zweifellos zu den Spitzenprodukten des Genres. Die Doppelbegabung des Autors als Erzähler und Illustrator verleiht ihnen zudem noch einen einzigartigen Reiz, denn mit seiner suggestiven Methode der Parallelbeschreibung zieht er die Leser unwiderstehlich in seinen Bann. Zu jeder einzelnen Geschichte gibt es eine Reihe ganzseitiger Farbillustrationen, zahlreiche Vignetten und kleinere, mit Erläuterungen versehene farbige Zeichnungen von fabelhaft kostümierten Menschen, nie geschauten Naturerscheinungen und rätselhaften Lebewesen in der Tier- und Pflanzenwelt.

In seinem ersten Buch "Die letzten Riesen" hat Place das Urtrauma aller Völkerkundler und Welterforscher beschrieben: Wie selbst der behutsamste und auf Schonung bedachte Griff nach einer fremden und schutzlosen Kultur diese unwiderruflich zerstört. Dieser Gedanke scheint auch in seinem Folgeprojekt immer wieder auf, den drei Bänden mit "Phantastischen Reisen", von denen nun der dritte und abschließende vorliegt. Ausgangs-und Zielpunkt dieser Reisen ist der Atlas der Kartographinnen von der Insel Orbæ. Auf der riesigen Karte im Zentrum dieser einstmals blühenden, inzwischen verschollenen Insel sollten alle Erscheinungen der Welt verzeichnet werden. Deshalb wurden genaue Berichte über alle Völker gesammelt, über ihre Sitten und Gebräuche, über die Tiere und Pflanzen bis in in die allerfernsten Gegenden. So sollte eine diesen Namen wirklich verdienende Welt-Karte entstehen.

Natürlich musste dieses Unternehmen, eine Art geo-und ethnographischer Turmbau zu Babel, letzlich scheitern. Aber es scheiterte auf grandiose Weise. Denn die Ausbeute der Reisenden bestand nicht aus dürren Katalogen und langwierigen Verzeichnissen. Von ihren gefährlichen Exkursionen, die oft ein Leben lang dauerten, brachten sie Geschichten mit, die so bunt, so herzergreifend, so atemberaubend voll des Grauens und des Entzückens sind wie die besten Geschichten, die an den Lagerfeuern der Geschichtenerzähler ihre Zuhörer hat vor Spannung erstarren und vor Mitgefühl Tränen vergießen lassen.

Die Welt ist alles, was über sie erzählt und geschrieben wird. Jedenfalls für uns Menschen. Weil das so ist, kann man ihre Geschichten auch nach dem Alphabet ordnen. Ordnung ist, wenn es um Abenteuer geht, ungeheuer wichtig. Wer ins Unbekannte reist, muss das planvoll vorbereiten. Sonst misslingt schon der Anfang. Schiffe müssen gebaut, Proviant eingekauft, Zeitpläne aufgestellt werden. Aber bald nach dem Anfang verblasst die Kraft der Ordnung. Andere Kräfte, magische und mythische, werden bestimmender. Die Reisenden werden von der Natur oder von anderen Kulturen umgeprägt. Sie verändern sich. Sie suchen weiter, geraten in immer neue Gefahren, hören von immer neuen unglaublichen Geschichten, durchleben immer neue Geheimnisse. Schließlich ist alles anders, als sie es sich vorgestellt haben. Wenn sie zurückkehren, erkennen sie ihre Heimat nicht wieder und werden als Fremde empfangen. Oder sie bleiben in der Ferne, werden ein Teil, beschwert von löchrigen Erinnerungen.

Place hat sich von dem ganzen Schatz der Reise-und Abenteuerliteratur inspirieren lassen, von der Odyssee bis Joseph Conrad, Tania Blixen und Yasushi Inoue. Seine Einbildungskraft verbindet Sprache und Bild, Orient und Okzident, die Pole, Gebirge und Wüsten zu sagenhaften Traumlandschaften. Am Ende wird das Buch zugeschlagen. Wir schauen auf, und im Blick auf unsere vertraute Umgebung liegen noch der Widerschein der phantastischen Landschaften, in denen wir umhergeirrt sind, und die Umrisse jener Abenteuer-Gestalten, denen wir uns angeschlossen haben. Ein Abenteuer liegt hinter uns.

Titelbild

Francois Place: Phantastische Reisen. Vom Jadeland zur Quinookta-Insel. Für Menschen von 9 bis 99.
Übersetzt aus dem Französischen von M.L. Knott.
C. Bertelsmann Verlag, München 1998.
140 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3570123294

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