Blindgänger in glänzender Verpackung

Georgia Byngs "Molly Moon" blendet statt zu hypnotisieren

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da steht sie. Selbstbewusst die Arme verschränkt, blickt Molly Moon mit ihren großen grünen Augen neugierig aus dem Bücherregal, das Kinn herausfordernd etwas vorgeschoben. Die Illustratorin Kat Menschik hat gute Arbeit geleistet. Und das Buchcover in reflektierendem Silber ist ohnehin ein echter Hingucker. Der Hanser Verlag hat sich mit seinem Konzept für das Kinderbuch "Molly Moon" zweifellos etwas einfallen lassen. Schließlich soll der Erstling der Britin Georgia Byng systematisch zum Bestseller aufgebaut werden. Nicht nur ist "Molly Moon", die Geschichte von dem Mädchen, das hypnotisieren kann, fast zeitgleich in über 25 Ländern erschienen und steht unter anderem auf der Liste der "7 besten Bücher für junge Leser" 2003 von Focus und Deutschlandradio, wie der Verlag stolz verkündet. Auch die Filmrechte sind längst vergeben - an keinen Geringeren als den Produzenten der Harry-Potter-Filme, "für eine sechsstellige Zahl". Was ist nun wirklich dran an "Molly Moon"? Ist die werbestrategisch aufgemotzte Geschichte nur schlichtes "Blendwerk" (so Hans ten Doornkaat in der Fachzeitschrift "Eselsohr")? Oder ist sie das hypnotische Lesevergnügen, das der Klappentext verspricht?

Zunächst der Plot: Das verträumte Mädchen Molly Moon wächst im Waisenhaus "Hardwick House" auf. Die Zustände dort sind katastrophal. Zum einen hat es die tyrannische, kinderhassende Heimleiterin Miss Adderstone auf Molly abgesehen. Zum anderen wird sie auch von den anderen Kindern systematisch gemobbt, weil sie so "ungeschickt und linkisch war und Pannen förmlich anzog". "Blindgänger", "Blindi" sind ihre Spitznamen, oder auch "Schlaftablette" oder "Sumpfauge". "Nur ihr bester Freund Rocky und die kleineren Kinder nannten sie Molly." Das Schicksal wendet sich, als Molly in der Stadtbücherei zufällig auf ein altes Buch stößt: "Die alte Kunst der Hypnose erklärt von Doktor H. Logan. Erschienen bei Arkwright und Söhne 1908". Das Mädchen entdeckt sein großes Talent zur Suggestion (nicht umsonst wurde sie "Sumpfauge" genannt) - und setzt ihre neue Gabe im Waisenhaus gezielt ein. Und nicht nur dort. Schon bald führt sie ihr Weg bis an den Broadway. Aus dem kleinen Aschenputtel wird ein verwöhnter Kinder-Superstar - zumindest bis ein Bösewicht, der auch hinter dem Hypnose-Buch her ist, ihm in die Quere kommt. Und schließlich erkennt das Mädchen, dass es mit der Manipulation ihrer Umgebung nicht nur die anderen betrogen hat, sondern auch sich selbst.

Die Autorin Georgia Byng hat die Geschichte mit einigen Wendungen und etlichen netten Details ausgeschmückt. So stößt Molly unerwartet bei einer Broadway-Konkurrentin an die Grenzen ihrer Fähigkeit zur Beeinflussung - denn Davina blendet selbst geschickt, wenn auch unbewusst-intuitiv, ihre Außenwelt. Die schrägen und überspitzten Ideen Mollys, mit denen sie sich an Miss Adderstone und der Köchin des Waisenhauses für die schlechte Behandlung rächt, bedienen dagegen kalkuliert Allmachtsphantasien der jungen Leser. Welches Kind sieht Erwachsene nicht gern einmal der Lächerlichkeit preisgegeben? Mit der Verquickung von Konsumkritik, Werbung, Manipulation und Hypnose (Molly träumt sich im Waisenhaus stets in die bunte Fernseh-Werbewelt) oder dem - allerdings etwas aufdringlichen - Motiv des "Kuckucksliedes" versucht sich Byng zudem an einer literarisch durchaus anspruchsvolleren Konstruktion. Diesem Ziel entspricht auch die Tatsache, dass die zunächst klinisch saubere Aufteilung der Charaktere in gute und böse am Ende immerhin etwas aufgebrochen wird, wenn sich die Attacken des Waisenmädchens Hazel gegen Molly als Eifersucht entpuppen oder aber die unglücklichen Umstände ans Licht kommen, die den Bösewicht Nockman zum Berufsdieb und Erpresser werden ließen (wenngleich hier allerdings sehr eindimensional-psychologische Erklärungsmuster angeboten werden).

Völlig daneben liegt aber die Verlagswerbung, die Molly Moon ausgerechnet zur "lustigsten, schrägsten, mutigsten und frechsten Kinderbuchheldin seit Pippi Langstrumpf" ausgerufen hat. Das ängstliche, angepasste Waisenmädchen Molly lässt sich sicherlich nicht mit der wilden, anarchischen Pippi vergleichen, auch wenn Molly im Laufe der Geschichte eine positive Entwicklung zu mehr Selbstbewusstsein durchmacht. Erinnert die Grundsituation ihres Aschenputtel-Daseins nicht vielmehr an einen kleinen Jungen mit einer Narbe auf der Stirn, der im Ligusterweg ein trauriges Leben bei der Familie seines Onkels fristet? Nach Autorin Georgia Byng ist allerdings die Ausstattung eines Kindes mit übernatürlichen Fähigkeiten "eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Harry und Molly". Und das sei in der Kinderliteratur ja nun "wirklich nichts Besonderes".

Richtig ist: Die Dursleys mit ihrer einfallslosen Höchststrafe für Harry (Hausarrest) sind im Vergleich mit Miss Adderstone geradezu Unschuldsengel. Das Regime in Hardwick House lässt nämlich selbst einen Oliver Twist noch als Glückspilz erscheinen. Georgia Byng schmückt die strengen Waisenhaus-Bedingungen sowie alle ekelhaften und fiesen Strafen für Molly (das Klo mit der Zahnbürste putzen, maximal zehn Zentimeter Badewasser in der Wanne etc.) recht genüsslich aus. Musste die Autorin hier alle gängigen Böse-Stiefmütter-Gemeinheiten unbedingt zwanghaft toppen? Vielleicht hätte sie lieber stattdessen mehr Sorgfalt auf die Konturierung ihrer Figuren, die allesamt etwas schematisch bleiben, gelegt. Mollys Freund Rocky beispielsweise taucht so plötzlich in New York bei Molly wieder auf, wie er anfangs aus dem Waisenhaus verschwindet. Wie bei allen anderen Figuren drängt sich auch bei ihm der Eindruck auf, er sei reine Staffage, ohne jedes nachvollziehbare Innenleben. Mollys eigene "Bekehrung", als sie am Ende der Hypnose abschwört, erscheint ebenfalls ziemlich konstruiert - und die Moral der Geschichte bleibt somit etwas aufdringlich. Psychologisch durchdacht und überzeugend ist da im Vergleich die Riege der Charaktere einer Joanne K. Rowling von Harry Potters Freunden Ron und Hermine über die Weasleys bis hin zum galligen Professor Snape. Triviale Erklärungen werden dem Leser der Potter-Bände nicht zugemutet, vielmehr überzeugen sie durch die wie beiläufig eingebetteten Handlungsmotive der jeweiligen Figuren.

So kann Georgia Byng nur zugestimmt werden: Harry und Molly haben nur wenig Gemeinsamkeiten - zu Lasten von Molly Moon. Hier fehlen nicht nur Witz und Ironie der Dialoge, sondern auch die liebevolle Ausstattung der Nebenfiguren oder aber die Leichtigkeit, mit der Rowling in den Geschichten immer wieder wichtige Details und Motive - für den Leser zunächst unsichtbar - einstreut. Dagegen wirkt Byng beinahe als Brachial-Autorin. Allein ein, zwei überraschende Wendungen, die die Realität der bisherigen Geschichte in Frage stellen, sind gelungen - wenn sie auch nach Jostein Gaarders "Sofies Welt" nicht übermäßig überraschen.

"Wenn ich, Harry Potter' lese oder auch andere gute Kinderbücher, dann achte ich auf den Stil und versuche festzustellen, was bei Kindern gut ankommt", hat Georgia Byng in einem Interview erzählt. Vielleicht hat sie einfach nicht aufmerksam genug gelesen.

Titelbild

Georgia Byng: Molly Moon.
Übersetzt aus dem Englischen von Wolfram Ströle.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
347 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446202978

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