Kultur als Arbeitsbegriff

Zum Pluralismus in den Kulturwissenschaften

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem Erscheinen des Bandes (2001) sind schon einige andere kulturwissenschaftliche Übersichten veröffentlicht worden. Trotzdem findet man hier eine, wie es die Herausgeber beschreiben, Übersicht zur kulturwissenschaftlichen "Lage der Nation" - allerdings beschränkt auf eine wissenschaftliche Perspektive. Es sind vor allem Einblicke in die "Praxis" der Anwendung des Begriffes "Kulturwissenschaften in den Forschungsfeldern Ethnologie und Anthropologie, Psychologie, Religionswissenschaft, Geschichte und Literatur.

Nach einer kurzen Diskussion des Kulturbegriffs und der Kulturwissenschaft im allgemeinen wird der Rahmen abgesteckt, in dem sich die vorliegenden Untersuchungen bewegen. Übernommen wird dabei die allgemeine Feststellung, dass die integrative Funktion von "Kultur" eher skeptisch zu sehen ist und die wissenschaftlichen Ansätze zur Definition, was Kultur sei, weitestgehend zu heterogen für gemeinsame Weiterentwicklung interdisziplinärer "Kulturkonzepte" seien: "Zu vielgestaltig und zu heterogen seien die einzelnen Ansätze, allzu vorschnell würden Vereinnahmungen unternommen." Daher einigte man sich für den vorliegenden Band auf eine gemeinsame Arbeitshypothese: "Uns erscheint es wichtig, zunächst einmal die Frage anzugehen, was die einzelnen Disziplinen jeweils mit dem Begriff 'Kultur' bzw. 'Kulturwissenschaften' verbinden."

Acht Aufsätze beschreiben die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Fachwissenschaften im Umgang mit dem Begriff "Kultur" und das Wechselverhältnis und die Positionierung zum Forschungsfeld "Kulturwissenschaft". Zwar kann man sich noch weitere wissenschaftliche Forschungsfelder als Gegenstand des Berichtes wünschen, trotzdem gelingt es, in den acht Aufsätzen die wesentlichen Kernpunkte der Diskussion über den Begriff "Kulturwissenschaft" aufzunehmen.

Der einleitende Beitrag 'Der Verlust der Totalität' von Martin Fuchs greift den Umschwung in der "Konjunktur" des Begriffes 'Kultur' in der Ethnologie und Kulturanthropologie auf. Man befinde sich in Bezug auf den 'Kulturbegriff' momentan in einer zwiespältigen Situation. Fuchs zeigt, wie die Leitfunktion des Begriffes ,Kultur' - wenn es denn eine solche überhaupt gegeben hat - verschwunden ist und eine Neukonstitution eine umfassenden Gemeinsamkeit der verschiedenen Wissenschaften wohl allein auf historische Traditionen setzen kann, und dieses sicherlich nur in einem internationalen Kontext. Fuchs rekonstruiert die Diskussion um die Möglichkeiten einer Neudefinition des Kulturbegriffs und wägt die verschiedenen Positionen - für den Leser gewinnbringend - gegeneinander ab. Der für alle sicherlich produktivste Ansatz versteht dabei Kultur als interpretative Leistung der Beteiligten, Kultur als prozessualer Begriff.

In dem Beitrag von Cappai - ,Kultur aus soziologischer Perspektive' - wird Kultur unter den klassischen soziologischen Fragestellungen betrachtet - am interessantesten ist dabei wohl die Diskussion der Betrachtungen von Clifford Geertz.

Beim Lesen der einzelnen Aufsätze wird man auf die Einleitung verwiesen, wo schon zu der allgemeinen Diskussion über die Kulturwissenschaften und den Kulturbegriff gesagt wurde: ein übergreifender, gemeinsamer "Diskussionsfaden" wäre dem Leser sehr hilfreich. Erst bei dem Aufsatz von Bachmann-Medick über ,Literatur - ein Vernetzungswerk. Kulturwissenschaftliche Analysen in den Literaturwissenschaften' scheint der Begriff "Vernetzung" auf eine Metatheorie zum Kulturbegriff zu verweisen. Die Beschreibung der Cultural studies skizziert dabei einen Gegenstandsbereich, der dem Modell "Kulturwissenschaft" schon sehr nahe kommt: "Cultural studies stehen für die Erweiterung des Textverständnisses sowie für eine kritische Analyse der Macht von Texten und von symbolischer Repräsentation. Sie stehen für eine Politisierung von Theorien und Methoden und sind eng verknüpft mit einem problembewußten Engagement für soziale und ethnische Randgruppen. Die Öffnung der Cultural studies gegenüber der Mediengesellschaft und ihre Aufhebung der Grenzziehungen und Hierarchien zwischen sogenannter Hochkultur und Trivial- bzw. Massenkultur haben in der USA und England zur Einrichtung transdisziplinärer Studiengänge geführt. Schon dadurch wurde das traditionelle Untersuchungsfeld der Literaturwissenschaften entscheidend verändert."

Trotzdem bleibt zum Ende des Aufsatzes leichtes Befremden und die anfangs erwähnte Skepsis gegenüber der Praktikabilität der vorgeschlagenen Erweiterungen in Hinblick auf den verwendeten Kulturbegriff: "So läge der Versuch nahe, die vorgeprägten Kategorien der Literatur- wie der Kulturwissenschaften ausdrücklich auf derartige theoriesperrige Begriffe wie 'Leichtigkeit', 'Vielschichtigkeit', 'Genauigkeit' usw. hin zu öffnen."

An dieser Stelle sie noch kurz auf die Literaturverzeichnisse hingewiesen, die sich zur fortsetzenden Lektüre immer am Ende der Beiträge finden. Das Literaturverzeichnis des Beitrages von Bachmann-Medick ist dabei sehr hilfreich, ebenso das des Aufsatzes von Fuchs.

Und so bleibt letztendlich wohl der spannendste Teil des Buches der am Ende stehende Beitrag von Hans G. Kippenberg, "Was sucht die Religionswissenschaft unter den Kulturwissenschaften?", der sich mit dem Aufsatz von Clifford Geertz "Religion als kulturelles System" grundlegend befasst und hier zu mehr als nur zu einer erneuten Lektüre von Geertz anregt. Der Religionsbegriff wird zu einer Teilmenge eines komplexen Kulturbegriffes, denn es wird über einen "Religionsbegriff als ein kulturell bedingtes Konzept" verhandelt. Ein "spannenderer" Kulturbegriff mit einer komplexeren Integrationsschnittstelle ist kaum vorstellbar.

Titelbild

Heide Appelsmeyer / Elfriede Billmann-Mahecha (Hg.): Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2001.
280 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3934730345

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