Die kleine Pforte des Paradieses

Astrid Lindgrens "Sonnenau" mit den herausragenden Illustrationen von Marit Törnqvist

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die bekannteste Kinderbuchautorin der Welt, national und international vielfach ausgezeichnet, ist letztes Jahr im Alter von 94 Jahren in Stockholm gestorben. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass weiterhin neue Bücher von Astrid Lindgren erscheinen: alte Geschichten, neu illustriert, zumeist von der schwedischen Buchillustratorin Marit Törnqvist. Nach den bei Oetinger erschienenen Bilderbüchern "Im Land der Dämmerung" und "Als Adam Engelbrecht so richtig wütend wurde", liegt nun mit "Sonnenau", der Geschichte zweier Waisenkinder, ein neuer Band mit den atmosphärisch ungemein dichten Illustrationen von Marit Törnqvist vor, aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky übersetzt. "Sonnenau" ist nun erstmals als eigenständiges Bilderbuch erschienen, wurde jedoch vorher bereits in dem Band "Märchen" von Astrid Lindgren publiziert.

"Vor langer Zeit, in den Tagen der Armut, da gab es zwei kleine Geschwister, die waren ganz allein auf der Welt. Aber Kinder können nicht allein sein auf der Welt, bei irgendjemand müssen sie sein und darum kamen Matthias und Anna von Sonnenau zum Bauern auf Myra. Er nahm sie nicht zu sich, weil sie die klarsten, treuherzigsten Augen hatten und die zutraulichsten kleinen Hände oder weil sie ganz verzagt und verloren waren in der Welt vor Gram über den Tod der Mutter, nein, er nahm sie auf, damit sie sich nützlich machten. Denn Kinderhände können recht gut arbeiten, wenn man sie nur daran hindert, Borkenschiffchen zu schnitzen und Weidenflöten zu schneiden und Spielstübchen am Bergeshang zu bauen. Kinderhände können die Myrakühe melken und bei den Ochsen ausmisten, wenn man sie nur von den Borkenschiffchen fern hält und von allen Spielstübchen und überhaupt von allem, womit sie am liebsten spielen." So beginnt die märchenhafte Geschichte von Anna und Matthias. Schrecklich, wie die zarten Hände der Kinder vom Bauern unentwegt zum Arbeiten gezwungen werden, wie den Kindern das Spielen untersagt wird und wie die beiden hungern müssen, weil ihnen lediglich "Kartoffeln, getunkt in Heringslake" zugewiesen werden. Eintönig ist diese Welt und grau, was Marit Törnqvist in den Illustrationen eindrucksvoll bebildert. Getragen wird das Leben der beiden nur von der Hoffnung auf den nächsten Winter, die vor allem von Anna gebetsmühlenartig beschworen wird: "Bliebe ich doch nur bis zum Winter leben und dürfte zur Schule gehen." Das Geschwisterpaar leidet ganz fürchterlich unter der grausamen Situation. Besonders Anna findet das Leben nicht mehr lebenswert. Auch der Schulbesuch kann die Qualen nicht lindern. Doch eines Tages führt ein roter Vogel die beiden Kinder in ein Land, in dem der Kirschbaum blüht und die Frühlingsblumen leuchten, wo eine Mutter auf alle Kinder wartet, ihnen ausreichend zu essen gibt und sich liebevoll um sie kümmert. Die Angst treibt sie jedoch zum Bauern auf Myra zurück. Erst als der letzte Schultag beendet ist und die Schatten des grauen Lebens jede Hoffnung auf Besserung zu ersticken droht, entscheiden sich die beiden Kinder, dauerhaft in Sonnenau zu leben, indem sie die kleine Pforte, die das Kinder-Paradies von der Außenwelt trennt, dauerhaft verschließen.

"Sonnenau" ist ein Buch in bester Astrid-Lindgren-Manier: arme Kinder, böse Erwachsene - und ein roter Vogel, der den Weg nach Sonnenau weist, dem Land, in dem Kinder Borkenschiffchen schnitzen und auf Weidenflöten spielen können; insgesamt eine sehr traurige Geschichte, die gleichwohl zu den besten Märchen aus Astrid Lindgrens Feder gehört, und die bezaubernden Illustrationen von Marit Törnqvist sind die kongeniale Umsetzung dazu. Wie Sonne gehört auch Schatten zum Leben, zum Lachen auch unerträgliches Leid; genau das erzählt Astrid Lindgren so schlicht und ergreifend, dass es für Kinder begreifbar wird und sie lernen können, dass Phantasie manch schlechte Zeit erträglicher macht. "Sonnenau" knüpft unmittelbar an Lindgrens vielleicht bestes Buch an, den 1954 geschriebenen und mit dem Deutschen Jugendliteratur-Preis prämierten Text "Mio, mein Mio", in dem der Waisenjunge Bo Vilhelm Olsson, der bei Pflegeeltern in liebloser Umgebung aufwächst und sich nach Verständnis und Geborgenheit sehnt, auf geheimnisvolle Weise das "Land der Ferne" findet, in dem sein Vater, den er noch nie gesehen hat, König ist und er selbst als Prinz Mio ein vom Kampf gegen das Böse erfülltes Leben führt. Bereits hier ist es Lindgren eindrucksvoll gelungen, die einfache Symbolkraft alter Märchen mit der Spannung moderner Abenteuer-Geschichten zu verbinden und aus diesen beiden Elementen eine geschlossene Einheit zu formen. Ebenso wie "Mio, mein Mio" ist "Sonnenau" ein kleines literarisches Kunstwerk und wird wohl nicht nur von Kindern mit Spannung und echtem Mitgefühl gelesen werden. Die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben, nach der Erlösung von Menschen, damit aus einer heillosen Welt wieder eine Welt der Ordnung werden kann, zeichnet beide Bücher aus. Wie alle Bücher Astrid Lindgrens sind auch in "Sonnenau" religiöse Metaphern und Anspielungen deutlich erkennbar. Dass der Ort Sonnenau als Paradies erscheint, braucht nicht extra hervorgehoben zu werden; interessanter ist der Blick auf die kleine Pforte, die unheimlich schön das illustriert, was Walter Benjamin in einer der beiden Zusatzthesen zu seiner Arbeit "Über den Begriff der Geschichte" hinsichtlich der Idee der Zukunft schrieb: "In ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte."

Titelbild

Astrid Lindgren: Sonnenau.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Anna L. Kornitzky.
Oetinger Verlag, Hamburg 2003.
48 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3789168432

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