Bachmann in der Kompositionsanalyse

"Malina", "Simultan" und "Das dreißigste Jahr" als formal-didaktische Häppchen

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Daß sich Jost Schneider eine ganze Habilitationsschrift lang mit der Prosa der wichtigsten deutschsprachigen Autorin des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, ist für sich gesehen schon lobenswert. Zumal er sich dabei auch noch einer Aufgabe angenommen hat, die zwar nicht unergiebig, aber doch eher undankbar ist, zumindest für jemanden, der Ingeborg Bachmanns Texte gerade um deren Inhalt willen schätzt: Schneider unterzieht die Erzählbände "Das dreißigste Jahr" und "Simultan" sowie den einzigen zu Lebzeiten Bachmanns veröffentlichten Roman "Malina" einer detaillierten Erzähltextanalyse. Geschrieben ist sie zumeist in einfachen und prägnanten Sätzen. Das kommt innerhalb der literaturwissenschaftlichen Interpretationsgemeinschaft nicht eben oft vor und ist daher ebenfalls lobenswert. Ziel Schneiders ist es, die "vor allem hinsichtlich der Perspektivführung subtile Erzähltechnik der Autorin" zu analysieren, um die "Rolle, die Bachmanns Technik der Perspektivierung im Kontext ihres poetologischen Konzepts spielt", zu erfassen.

Sein Argumentationsgerüst beruht auf der bekannten Kernthese Bachmanns, daß das "Virus Verbrechen" noch heute, Jahrzehnte nach der offiziellen Beendigung der Greueltaten des Zweiten Weltkriegs, subtil unter den Menschen fortlebt. Sie spielt die beiden fatalen, innerhalb der modernen Gesellschaft verbreiteten Denkformen - das Denken, das zum Verbrechen führt (Mord) und das Denken, das zum Sterben (Selbstmord, Selbstaufgabe) führt - in ihren Texten durch. Schneider referiert dabei (wenn auch gelegentlich etwas oberflächlich) die zentralen Thesen fast der gesamten Bachmann-Forschung. Seine der Chronologie der Texte folgende Kompositionsanalyse macht oft - quasi nebenbei - auf sonst gerne Überlesenes aufmerksam und liefert einige wichtige Interpretationshilfen. Bisweilen führt sie sogar zu originellen Schlußfolgerungen. Insgesamt gelangt Schneider zu dem Fazit, daß es das von ihm analysierte "spezielle Kompositionsverfahren" Bachmanns sei, das die Leser zu jenen von ihr in den "Frankfurter Poetik-Vorlesungen" erwünschten Denkbewegungen veranlassen könne - jenen Denkbewegungen also, aus denen "eine neue sittliche Möglichkeit" erwachsen soll.

Auffallend sind in Schneiders Arbeit jedoch immer wieder die großenteils völlig theoriefernen Statements, die angesichts der hochkomplexen Texte einer so intellektuellen Autorin wie Ingeborg Bachmann, die sich nicht nur während ihres Studiums, sondern Zeit ihres Lebens mit der Philosophie, mit psychologischen Theorien einschließlich der Psychoanalyse, der Musik und der Weltliteratur in sehr komplexer Weise auseinandergesetzt hat, einfach zu kurz greifen. Dazu gehören auch Behauptungen wie die, daß die Interpretationen, die die Texte Bachmanns mit Irigaray lesen, ahistorisch und daher unbrauchbar seien. Oder die Behauptung, daß sie deshalb "genuin modern" und nicht etwa postmodern seien, weil sie nicht wie die Postmoderne "im Interesse von Pluralität" auf "Beeinflussungsabsichten" verzichten. Im Gegenteil wolle Bachmann - "ethisch-didaktisch motiviert" -, daß sich die "Einstellungen, Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen der Rezipienten" verändern. Daher seien ihre Texte modern. Beide Beispiele zeigen, daß Schneider innerhalb seines auf die Kompositionsanalyse beschränkten Gesichtsfelds einiges Wichtige aus dem Blickfeld gerät. Auch wenn Bachmann insgesamt sicherlich eher der Moderne als der Postmoderne zuzurechnen ist, müßte eine differenziertere Sichtweise zumindest zu dem Ergebnis führen, daß Bachmanns Texte erstens durchaus Elemente der Postmoderne präfigurieren und daß es zweitens gar nicht so fernliegt, etwa ihre Subjektkonzeptionen mit denen feministischer Theoretikerinnen zu vergleichen.

Innerhalb der gendertheoretisch orientierten Interpretationsgemeinschaft gibt es jedenfalls seit längerem ein Bewußtsein dafür, daß 'Weiblichkeit' im Text niemals außerhalb des 'männlich' codierten Repräsentationssystems Schrift problematisiert werden kann. Zu der Einsicht, daß sie letztlich niemals außerhalb ihrer diskursiven Verfaßtheit auch nur gedacht werden kann, haben die Einsichten der Gendertheorien (etwa einer Judith Butler oder einer Teresa de Lauretis) innerhalb der letzten zehn Jahre verholfen. Schriftstellerinnen haben solche Probleme bisher nur selten bewußt in ihren Texten reflektiert. Tatsächlich stellt Ingeborg Bachmann hier eine frühe Ausnahme dar. Bereits 1971 hat sie in "Malina" die Tragik der Unmöglichkeit eines 'weiblichen' Ortes im Schreiben inszeniert und eine radikale poetische Konsequenz daraus gezogen: Sie läßt das 'männliche' Ich das 'weibliche' überleben und schließlich die Autorschaft der "Todesarten" übernehmen. Etwa zur gleichen Zeit suchten feministische Theoretikerinnen wie Hélène Cixous und Luce Irigaray mit einer dekonstruktiven Schreibweise einen theoretischen Ausweg aus dem Dilemma. Bereits diese Gleichzeitigkeit der Formulierung ähnlicher Erkenntnisse (wenn auch mit unterschiedlichen Konsequenzen) legt nahe, die Theorien dieser beiden wichtigen Kulturtheoretikerinnen bei einer Interpretation der Texte Bachmanns mit zu berücksichtigen (was noch nicht heißt, daß Bachmann damit per se zur feministischen Dekonstruktivistin erklärt wird). In diesem Zusammenhang läßt sich auch zeigen, daß eine pauschale Verurteilung solcher Interpretationen, die Verbindungslinien zur Postmoderne sehen wollen, etwas voreilig und leichtfertig ist. Auch einer der maßgeblichen Initiatoren der Postmoderne, Jean François Lyotard, scheint nämlich die Ansicht zu teilen, keine Schreibweise könne einer Vereinnahmung durch die 'männlich' konnotierte Repräsentationsform Schrift entkommen. Zumindest hat er 1990 theoretisch auf den Punkt gebracht, was Bachmann in "Malina" bereits 1971 auf eine sehr radikale Weise als eine Todesart des 'Weiblichen' veranschaulicht hatte. An die Adresse schreibender Feministinnen gerichtet, gibt er zu bedenken: "Es könnte sein, daß ihr von dem Augenblick an, wo ihr zu schreiben beginnt, gezwungen seid, ein Mann zu sein. Vielleicht ist Schreiben eine männliche Tätigkeit. Selbst dann, wenn ihr über das Weibliche schreibt, selbst dann, wenn ihr 'weiblich' schreibt." Bereits solcherlei Koinzidenzen lassen die erwähnten Behauptungen Schneiders doch zumindest differenzierungswürdig erscheinen. Hinzu kommt noch, daß die Texte Bachmanns sehr wohl von einer strategisch inszenierten 'Authentizität' zeugen und daß die von ihr gestaltete 'Realitätsnähe' und 'Glaubwürdigkeit' ihrer Figuren stets Resultate eines durchdachten und auch nach außen bewußt gemachten Inszenierungsvorgangs sind, der insbesondere auch an ihrem Körperkonzept und an ihrer Konstruktion von Gefühlen deutlich wird. Auch dies stellt eine gewisse Nähe zu den Theoremen der Postmoderne her, zu deren Basisvokabular Worte wie "Inszenierung", "Simulation" und "Konstruktion verschiedener Wirklichkeiten" gehören. Man darf also festhalten, daß bereits literarische Texte der siebziger Jahre, und zwar gerade die von Bachmann, der postmodernen Literatur durchaus Impulse geben können. Möglicherweise sind sie in mancher Hinsicht sogar postmoderner als viele zeitgenössische Texte der neunziger Jahre, in denen das Vertrauen auf die 'Wahrheit' des Körpers wieder ungebrochen scheint, der 'authentische' Körper abermals zu einer der beliebtesten literarischen Kategorien avanciert und in denen erneut die selbstgemachte und am eigenen Leibe beglaubigte Erfahrung, möglichst in einer vorzivilisatorischen Gegend, als 'echt' gilt.

Nicht weniger leichtfertig und reichlich willkürlich mutet es an, daß Schneider die Texte Bachmanns immer wieder mit Texten Schillers, Lenz' oder Büchners konfrontiert. Das liegt aus seiner Sicht wohl insofern nahe, als Bachmann unter anderen diese Autoren favorisierte, doch wirken die Verweise auf sie - innerhalb seiner Argumentation - oft deplaziert. Die Einteilung der Prosa Bachmanns in "mäeutische Kompositionen" und "exploratorische Kompositionen" wird der Komplexität ihres Werks in ihrer Holzschnittartigkeit ebenfalls nicht gerecht. Genauso erscheint die Kontrastierung der Figuren in Sympathieträger und unsympathische Personen oder die literarisch-euphemistische Bezeichnung einer in ihrer subtilen Gefährlichkeit komplex gezeichneten, misogynen Männerfigur wie Jordan als "Erzschurke" grob vereinfacht, wenn nicht gar naiv. Angesichts solcher Passagen überkommt einen doch bisweilen das Gefühl, es hätte auch ein ganz anderes literarisches Werk eines anderen Autors in einer anderen Epoche sein können, an dem Schneider seine an Stanzel und Uspenskij geschulte Erzähltextanalyse in verständlicher, didaktisch-geschickter Weise hätte vorführen können. Doch ist die über weite Strecken langatmige Lektüre der sich oft wiederholenden Ausführungen auf jeden Fall in einer Hinsicht (schul-)pädagogisch wertvoll: Die formale Analyse eines jeden Prosatextes wird nach Lektüre dieser über 500 Seiten sicherlich im Schlaf gelingen.

Titelbild

Jost Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns: Erzählstil und Engagement in "Das dreißigste Jahr".
Junius Verlag, Bielefeld 1999.
512 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3895282049

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