Vor und nach dem Rochenstich

Mit Band 22 ist die Ausgabe der "Gesammelten Werke" Ernst Jüngers abgeschlossen

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe zweimal regelmäßig Tagebuch geführt: während des Ersten und Zweiten Weltkriegs und der Jahre, die sie umrandeten. Gern verzichte ich auf eine dritte Anregung." Er habe "nur in gefährlichen Zeiten" Tagebuch geführt, hat Ernst Jünger einmal gesagt, und doch kann diese Gattung als seine eigentliche Domäne angesehen werden. Nimmt man den abschließenden 22. Band seiner Werkausgabe in den Blick, so gelten 450 der 800 Seiten dem Tagebuch bzw. einer seiner Vorstufen, den Reisenotizen. Nachgerade erstaunlich ist die Zeitspanne, die mit diesem Band abgesteckt wird - sie führt vom Jahre 1909 (Jünger fährt in die Picardie, um sein Französisch aufzubessern) bis in die späten 90er Jahre. Der letzte, kurz nach Jüngers Tod veröffentlichte Text, schildert die Begegnung mit Serge Mangin, dem Nachfahren des Marechal Mangin und Bildhauer, der 1990 den Cäsarenkopf des Dichters in Bronze festhielt - "mein gültiges Altersbild", wie Jünger befand. Seine 70-jährige Autorschaft mündet schließlich in das fünfbändige Tagebuchwerk "Siebzig verweht" (1980-1997), das mit der Schilderung einer Traumgesellschaft ausklingt und der imaginären Wiederbegegnung mit Florence Gould:

"Mir gegenüber ein Nobile in eleganter Kleidung; er gehörte nicht zum Traum, sondern stand greifbar im Raum. Vielleicht macht mich meine Dostojewski-Lektüre für solche Erscheinungen anfällig."

Auch das Alter war offenbar eine gefährliche Zeit und regte die Tagebuchproduktion an: "Und als ich dann siebzig wurde, da dachte ich, na ja, jetzt kommen also von alten Freunden doch immer wieder Verlustnachrichten, eine gefährliche Zeit, da könnte man ja wieder anfangen."

Mit den Tagebüchern aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, den dazwischen und danach entstandenen (Reise-)Tagebüchern und Tagebuchnotizen deckt Jünger einen Großteil seines Lebens ab und ersetzt sich beinahe die Autobiographie.

Sardinien war sein bevorzugtes Reiseziel, jedenfalls in den 50er und 60er Jahren, und kaum hatte er 1955 sein erstes Reisetagebuch über die Insel veröffentlicht, folgten auch schon Leser seinen Spuren, in der Hand das bei Vittorio Klostermann veröffentlichte Buch ("Am Sarazenenturm"). Es waren Spurenleser, die sich selber ein Bild von der Schönheit der Fischmärkte und der abgelegenen Badeplätze machen wollten, neugierig auf den Garten von Signor Farci oder auf Signora Bonaria, die Wirtin der etwas heruntergekommenen Herberge Stella d'Oro.

Die Lust, das Bekannte und Vertraute wieder aufzusuchen, versiegte nicht so leicht, auch wenn die Vorboten des Fortschritts für Unbehagen sorgten: Erst wurden die Stromleitungen gelegt, dann stiegen die Grundstückspreise und schließlich wurden die einstmals schönsten und verschwiegensten Plätze verbaut. Dem Leben, konstatiert der Autor, ist eine Verlustperspektive eingeschrieben; Trost spenden die "absonderlichen Geschöpfe", die auf den subtilen Jagden als Signaturen einer geheimen Ordnung erbeutet und später klassifiziert werden. Noch findet der Abenteurer einsame Pfade und kaum frequentierte Buchten, wo er seiner Käferleidenschaft nachgehen kann und mit gut gefüllten Netzen zurückkehrt. Die Ausbeute ist eine doppelte: Da sind die diversen Käfer, uralte Schriftbilder der Natur und von "bestürzender Schönheit", und da sind die wissenschaftlichen oder literarischen Funde, die in die Sammlungen eingehen - ins Coleopterentagebuch etwa oder in die "Letzten Worte", ein schier unerschöpfliches Sammelgebiet, zu dem seine Briefpartner zahlreiche Fundstellen beigesteuert haben und das von Jüngers leidenschaftlichem Interesse am Totenkult kündet. Überhaupt gilt sein Hauptaugenmerk dem Aperçu, dem Bonmot, den Maximen und Reflexionen, die fast zwanghaft produziert werden:

"Einmal in Schuls-Tarasp begegnete mir etwas wie ein Fischzug - Gedanken, Maximen, Assoziationen zogen in beliebiger Menge vorbei. Ich notierte fünfhundert, dann ließ mein Vergnügen daran nach. Damals muss mir die Idee zu 'Mantrana' gekommen sein."

Auch hier also tritt der Autor als Jäger und Sammler auf, der seinen Ursprung im Archaischen hat, aber mit der Wahrnehmungsschärfe des Zeitgenossen auf die Zeichen der Veränderung reagiert.

Die Reisenotizen sind auch der Ort heiterer Kontemplation, die jedoch jäh gestört werden kann. Als Trauma bleibt die Begegnung mit einem Rochen zurück, von der Jünger am Palmsonntag 1957 erzählt:

"Es kam mir in den Sinn, diesmal in der Nähe der Straße nach Cagliari zu baden; ich zog die Badehose aus und stieg in die Flut. [...] Ich fühlte, daß ich auf ein flaches, lebendiges Wesen getreten war, das große Bewegung entfaltete. Zunächst erhielt ich einen oder zwei Stiche in den rechten großen Zeh, dann in die Wade, endlich fühlte ich das Wesen oder einen Teil von ihm zwischen den Oberschenkeln, die auch beide mit mehreren Stichen bedacht wurden. Das Wesen schien nicht entkommen zu können, daher beschäftigte es sich so ausgiebig mit mir. Es war höchst ungemütlich, diese seine glatte Haut zu spüren, die in einem scharfen Stachel endigte. Es wallte und schlängelte immer wieder empor. Das bösartige, giftige Wesen zwischen den Schenkeln zu fühlen war wie ein Alptraum; endlich schwamm es dem Meere zu, und ich eilte an Land."

Die Schnitt- und Stichwunden, die zum Teil stark bluteten, führten zu heftigen Schmerzattacken und Träumen und hinterließen umfangreiche Schwellungen:

"Ein seltsames Mißgeschick. Womit beleidigte ich Neptun? Wirre Träume in verschiedenen Ländern; Frankreich, Norwegen."

Die Aufzeichnungen bei Tag und bei Nacht künden von einem bewegten Innenleben, aber auch von kalkulierender Ratio und gezielt eingebrachtem Kulturellen Wissen. Mit Bedacht hat die Herausgeberin des opulenten Bandes, Liselotte Jünger, besser bekannt als das "Stierlein", die hier veröffentlichten Aufzeichnungen "Reisenotizen" genannt und nicht "Tagebücher", denn es sind Vorstufen, die erkennen lassen, daß an ihnen noch gearbeitet werden sollte. Bemerkungen wie "weiter ausführen!", "weiter im Käfertagebuch", "Zu Hause Näheres ermitteln" oder "Siehe Anlage!" belegen dies und machen deutlich, dass Jünger neben seinem literarischen Tagebuch auch ein eigenes Käfertagebuch geführt hat: "Coleopteren, siehe besonderes Heft".

Der Ertrag ist, auch wenn er nicht die allerletzte Gestalt repräsentiert, die Jünger ihm hätte geben können, gut lesbar und im Duktus vertraut. Er verdeutlicht noch einmal die Arbeitsweise des Diaristen und ist schon von daher unbedingt veröffentlichenswert. Außerdem zeigen die frühen ebenso wie die späten Eintragungen die Entwicklungslinien eines Autors auf, der sich erst in jugendlich-ruppiger Weise die Welt aneignete, bevor er die für ihn so charakteristische und für uns so faszinierende Mischung aus Jugendlichkeit, Neugierde und Abgeklärtheit erreichte.

Natürlich sind diese Aufzeichnungen auch in biographischer und zeitgeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert: Die Besuche an Ernstels Grab, dem 1944 in Carrara gefallenen ältesten Sohn, der Tod Gretha Jüngers, der ersten Ehefrau und Schriftstellerin (bekannt unter dem Namen Gretha von Jeinsen), die erste Erwähnung des Stierleins (Damaskus, 25. März 1961), die Luftbrücke als Folge des Mauerbaus und anderes mehr.

Zu den eindrucksvollsten Passagen zählt die Schilderung eines Badeunfalls am Sarazenenturm im September 1963. Jünger verliert die Orientierung und den Kampf gegen die Strömung, er wird "ins Unendliche" abgetrieben und von "Beängstigung" ergriffen:

"Wieder schluckte ich Wasser und trieb nun mehr als ich schwamm, wurde auch einmal durch die Woge gewendet wie ein Stück Holz. [...] Ich wurde, schon fast betäubt, von ihr vorwärtsgestoßen - und als sie zurückebbte, faßte ich mit den Füßen Grund. Ein Wunder war geschehen. Noch zwei, drei Mal wurde ich vorangestoßen, stolperte, kroch auf den Sand und fühlte noch, daß das Stierlein sich über mich warf."

Die Frage, was überhaupt "wunderbar" ist an einer plötzlich auftauchenden "isolierte[n] Sandbank", beschäftigt Jünger noch lange. Der Badeunfall jedenfalls setzt ein Datum, auf das er in seinen Aufzeichnungen oft zurückkommt, ebenso wie der erwähnte Rochenstich. Solche Erlebnisse verschwinden nicht im namenlosen Grauen der Nächte wie in einem Poe'schen Malstrom, sondern werden wieder und wieder vor den inneren Schirm des Betrachters oder Träumers gezaubert. Die Tagesreste und die überwältigenden Traumbilder der Nacht gehören damit ebenso zum Fundus des Diaristen wie die Korrespondenz oder der Lektürebericht.

Einen Eindruck von den Langzeitwirkungen persönlicher Erfahrung gibt auch Jüngers späte Erzählung "SP. R. Drei Schulwege". 1991 entstanden, führt sie zurück in eine Epoche, da die Lehrer noch Stehkragen und Kneifer trugen. Wolfram, der Protagonist, ist wie Clamor, die Hauptfigur in Jüngers Roman "Die Zwille" (1973), ein Träumer, einer, der sich auf seinen Schulwegen verirrt, der häufig zu spät kommt, obgleich die Wegezeit "reichlich bemessen" ist, und der dafür Ermahnungen kassiert - vom Lehrer, vom Vater und vom Großvater, der selber Lehrer ist und den Knaben auf seinem ersten Schulweg oft begleitete. Der Vater, Mayor mit Verwendung im Ausland (drei Jahre ist er bei einem Seebataillon in China stationiert), bestellt schließlich einen Nervenarzt ins Haus, Privatdozent Doktor Edelstein, der natürlich Jude ist. Seine Handlung hat Jünger etwa zu der Zeit situiert, als in Frankreich die Dreyfus-Affaire die Gesellschaft erschüttert; es ist dies für den Autor - neben dem Untergang der Titanic - eines der großen Menetekel der modernen Gesellschaft.

Da er für das Gymnasium zu verträumt ist, kommt Wolfram in Tegtmeiers Institut, eine renommierte Privatschule, eine sogenannte "Presse", in der das "Einpauken" als Unterrichtsmethode dominiert. Hilpert, der Klassenlehrer, ein "vortrefflicher Mathematiker", erkennt sofort Wolframs Lebensuntüchtigkeit und arbeitet sich genüsslich an ihm ab. Die Langzeitwirkungen solcher narzistischer Kränkungen hat Jünger in seinem erzählerischen Werk ebenso wie in seinen Reisenotizen beschrieben: "Das geht bis in die Schule und weiter zurück", konstatiert der mittlerweile 66-jährige Autor, denn wo man den Erwartungen nicht entsprechen konnte, verfängt sich die Erinnerung:

"Versagen, unbewältigte Konflikte, Defekte, peinliche Situationen, anderen zugefügte oder von ihnen hingenommene Ungerechtigkeiten und anderes mehr - oft Dinge, die kaum der Rede wert scheinen. Doch immer noch bereiten sie Unbehagen, obwohl wir sie oft bereuten, daß sie längst amortisiert sein müßten. [...] Die Häuser, in denen sie sich ereigneten, sind längst verschollen, die Städte in Flammen aufgegangen, alte Gegner, Partner und Zeugen gestorben, doch der Stich, den wir verspürten, hält immer noch vor."

Der vorliegende Schlussstein der großen, 22-bändigen Werkausgabe, enthält auch eine Reihe von Gelegenheitsarbeiten, Vor- und Nachwörtern etwa, Reden zu verschiedenen Anlässen, Fragmenten aus aufgegebenen Projekten usw. Nachgereicht wird hier etwa die Einleitung zu Jüngers Dankrede zum Frankfurter Goethepreis (1982), die Jünger mit Bedacht als Blütenlese angelegt hatte, weil die Proteste gegen seine Auszeichnung nicht verstummen wollten: "Ich hätte bei diesem Anlaß gern über mein persönliches Verhältnis zu Goethe und seinem Werk gesprochen; es ist stark, da ich schon mit ihm aufgezogen worden bin. [...] Da die Diskussion aber gezeigt hat, daß es ihr wenig um Goethe und keinesfalls um Literatur geht, werde ich mich den Aspekten der Autorschaft als solcher, der Existenz des Autors in unserer Zeit, zuwenden. [...] Ich stoße dabei auf Fakten, die sich wiederholen, seitdem es Schriftsteller gibt, doch auch auf solche, die unserer Endzeit eigentümlich sind."

Schade ist nur, dass der Krieg der Zitate, der um Jüngers Auszeichnung geführt wurde, hier nicht vollständig dokumentiert ist, aber das hätte wohl zur Teilung des ohnehin schon opulenten Bandes führen müssen. Und als Band 13 der Werkausgabe erschien, jener Band, der "Autor und Autorschaft" erweitert enthält, war der Goethepreis noch nicht in Sicht.

Aber auch ohne dies gibt es hier genügend zu entdecken, die Tagebücher "Siebzig verweht V" etwa, das Dramenfragment "Prinzessin Tarakanowa" oder die späte Erzählung "Eine gefährliche Begegnung". Dieser Titel, nachgerade das Motto eines Lebenswerkes, spricht quasi auch von der Gefahr für Jüngers Leser: denn man kommt nicht mehr von ihm los.

Titelbild

Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Band 22. Späte Arbeiten. Verstreutes. Aus dem Nachlaß. Vierter Supplement-Band.
Herausgegeben von Liselotte Jünger.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003.
802 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3608935347

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch