Der Teufel auf Rollschuhen

Sten Nadolny schickt in seinem neuen Roman "Ich oder Er" Ole Reuter wieder auf die Bahn

Von Oliver JahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er es am Kragen hätte." Soweit Goethe. Auch Thomas Mann hatte da so seine Erfahrungen, ein merkwürdiger Fremdling war´s, der in seiner Pension in Palästina auf dem Sofa saß. Nachzulesen dann im "Faustus". Auch jüngst scheint er wieder Konjunktur zu haben, der Teufel. Helmut Krausser läßt ihn in seinem "Großen Bagarozy" auftreten, auch bei Stephan Wackwitz kürzlich in dessen "Wahrheit über Sancho Pansa" kommt es zur Begegnung der schwefelhaften Art. Und jetzt Sten Nadolny? Wir werden sehen.

In seinem neuen Roman "Ich oder Er" schickt Nadolny nach 20 Jahren seinen Helden Ole Reuter wieder auf eine Reise mit der Bahn, quer durch Deutschland. Unruhig, um die 30 und kurz vor dem Lehrerexamen, machte sich damals ein junger Mann auf, aus dem Zugfenster das eigene Land zu erkunden. Ein jugendlicher Spießer war das, mit dem Kursbuch in der Hand, sonst aber reichlich planlos. Er sollte sein zurechtfantasiertes Dorado, eine blonde Bäckerstochter aus Jerxheim, dann doch nicht finden. Was er allerdings mitbrachte von dieser vierwöchigen Entdeckungsfahrt mit einer "Netzkarte" - so hieß der 1981 erschienene Erstling - waren ein Schulheft voll notierter Eindrücke und eine siebzehnjährige Schülerin, Judith.

Mit Judith ist Reuter, mittlerweile erfolgreicher Unternehmensberater ("Ich verkaufe den Ruck, der durch Firmen, Parteien und Institutionen geht"), immer noch verheiratet. Fett und versoffen versteckt er sein verbrauchtes Leben hinter Armani-Jacketts und Goldrandbrille. Ganz anders als Robert Musils Ulrich wuchtet hier ein Mann "mit labyrinthisch vielen Eigenschaften" seinen Pilotenkoffer samt Whisky und Pistole erneut ins Gepäcknetz der Deutschen Bahn, auf der Suche nach der verlorenen Unbefangenheit. Jedoch - auch mit zwei Uhren am Arm kann Reuter die Zeit nicht zurückdrehen. Wehleidig beklagt hier einer stellvertretend für eine ganze Generation den Verlust nicht nur der Merkfähigkeit, sondern auch aller Träume von einst. Einer Generation, der es gut geht, die sich aber keineswegs gut fühlt. Die Wiederbelebungsversuche seiner maroden Biografie kreuz und quer durch die Republik scheitern ebenso kläglich wie seine zwei Selbstmordversuche. Totes Geleis! Da landen die ganzen Heilserwartungen des Reisenden schnell mal beim Teufel. Womit wir wieder beim Thema wären. Ole Reuter reist nämlich nicht allein. Teufel auf Rollschuhen, an Kinokassen und Kneipentresen, Schutzengel mit Email-Anschluß durschschneiden das Streckengewirr.

Die Irrfahrt endet schließlich im Krankenhaus, nachdem Reuter, weit mehr an seinen Notizen als an blühenden Landschaften interessiert, nach dem Gepäck auch noch den Verstand verliert. Kurze Zeit später verschwindet er völlig, verliert sich - so mag man vermuten - zwischen den Zeilen seiner Aufzeichnungen, die zurückbleiben.

Sten Nadolny errichtet eine erzähltechnisch versierte Versuchsanordnung, die der Krise seines Helden angemessen scheint. Das an sich selbst erkrankte und verzweifelnde Ich des alternden Nörglers zerfällt in ein kurioses Gewimmel von Perspektiven. Engel, Teufel, Ich, Er, Arzt, Autor, Freund und Feind, alles Kopfgeburten eines Schreibers, der die eigenen Auflösungserscheinungen aus allen Winkeln bespiegeln will. Nicht bloß Ich oder Er, vielmehr "Ich bin Alle", lautet die Devise einer maßlos überhitzten Phantasie. In all den imaginierten Spielchen und Gesprächen, in all den teuflischen Tagträumereien verrät der früher leidenschaftliche Leser seine literarischen Quellen. Wo Faust, der ewig Suchende und sein Berater (!) Mephisto manche Flasche Roten leeren, arbeiten auch Zeitblom und Leverkühn gerne Hand in Hand, und das von allem Anfang an.

Muß man ihn mögen, diesen lamentierenden, schwitzenden Reuter, der zwischen Selbstanklage und Selbstrechtfertigung durch die (Kopf-)Bahnhöfe streicht? Ihn wohl nicht, wenn man seinem Autor glauben darf, der kürzlich bekannte: "Ich habe lange an dem Buch gearbeitet und im Grunde nur, um diesen Kerl endlich loszuwerden." Ihn wohl nicht, wohl aber seine Geschichte.

Titelbild

Sten Nadolny: Er oder ich. Roman.
Piper Verlag, München 1999.
240 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3492041655

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