Eine Weihnachtsfeier in Damaskus

Karl May in neuen Ausgaben

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um den Karl May Verlag, dachte man immer, müsse man sich keine Sorgen machen. Denn die Leserbindung, die durch die grünen Bände der "Gesammelten Werke" meist schon in der Jugend geknüpft wird, hält oft ein Leben lang. Und mit dem Alter der Leser steigt gewöhnlich auch ihre Kaufkraft. Doch wie "Der Spiegel" kürzlich schrieb (Nr. 45/2003), ist dieses Werk die einträgliche Pfründe nicht mehr, von der sich sorglos leben lässt: Eine Verfilmung nach Art der "Herr der Ringe", so Verlagschef Bernhard Schmid, tue not.

Der Verlag ist ein Unikum insofern, als er nur einen Autor pflegt und vertreibt. Man spricht offiziell von 80 Millionen verkauften Büchern - und stützt sich dabei auf die gesicherten eigenen Zahlen aus Verkäufen und Lizenzen. Hinzu kommen geschätzte 20 Millionen weltweit verkaufter Karl-May-Bücher in circa 40 Sprachen, neuerdings sogar in Lateinisch und Esperanto. Allein für den Spitzentitel "Winnetou I" gelten etwa 3.750.000 in den Handel gelangte Exemplare als gesichert, und wenn man bedenkt, dass auch der Antiquariatshandel blüht, dann liegt der Umsatz noch weit höher. Nicht erfasst sind hierbei die Ausgaben anderer Verlage wie Bertelsmann, Greno, Haffmans, Pawlak, Weltbild und Olms.

Ein Erfolgsrezept der grünen Bände ist, dass sie für die Jugend bearbeitet wurden und werden. In dieser bearbeiteten Form sind sie auch urheberrechtlich geschützt. Natürlich haben sie sich dadurch mehr oder weniger weit von der originalen Textgestalt der May'schen Werke (sofern man von dieser überhaupt sprechen kann) entfernt und entfernen sich weiter, da in den Nachauflagen und in den neuen Bänden auch die neue Rechtschreibung zur Anwendung kommt, mit zum Teil sinnwidrigem Ergebnis. In der Erzählung "Merhameh" beispielsweise (in "Abdahn Effendi"), reiten Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar auf ihren "wohl bekannten Rappen" durch Ardistan. Man reibt sich die Augen: Soll die Getrenntschreibung etwa schon den schwindenden Bekanntheitsgrad des berühmten Rih dokumentieren? Oder hat hier ein übereifriger Lektor des Guten zuviel getan? Jedenfalls sind damit aus den 'sehr bekannten', nämlich "wohlbekannten Rappen" des Originals in der Neuausgabe die 'wahrscheinlich bekannten' Rappen geworden, eine Veränderung des Sinnes, die - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch - verfrüht erscheint.

Der Bamberger (und Radebeuler) Karl May Verlag tut viel, um Karl Mays Werk lebendig zu erhalten. Die ehemals auf 74 Bände angelegte, inzwischen auf 84 Bände erweiterte Ausgabe der "Gesammelten Werke" wartet mit immer neuen Überraschungen auf, darunter Band 81, im Jahr 2000 unter dem Titel "Abdahn Effendi" vorgelegt, der in seinem ersten Teil orientalische Reiseerzählungen bzw. Novellen aus Mays "Altersjahrzehnt" (Ekkehard Bartsch) versammelt. Sie waren bislang Bestandteil des Bandes 48 ("Das Zauberwasser"), der eine "Auslese aus den kleineren Nachlassschriften" (Euchar Albrecht Schmid) enthielt. Die Neuordnung wird durch weitere Textfunde in Zeitungen und Zeitschriften plausibilisiert.

Die Titelnovelle "Abdahn Effendi" umfasst knapp 75 Seiten, ist sparsam kommentiert und kann als Schmuggler- bzw. Bekehrungsgeschichte charakterisiert werden, wie sie in Mays Spätwerk des öfteren anzutreffen ist. Schon der Erzähleingang lässt auf ein Gleichnis schließen, das dem Leser hier mitgeteilt werden soll. Aus der Türkei kommend, machen zwei uns längst vertraute (wohlbekannte) Personen, Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar, Halt an einer Grenzstation im kurdischen Hochgebirge. Auf ihren kostbaren Arabern sind sie, Teheran ansteuernd, durch das Dschantal geritten und haben mit der türkisch-persischen Zollstation einen Militär- und Handelsposten erreicht, der fest in der Hand von Schmugglern ist. Unweit des Postens kommen sie einem Sägemüller christlichen Glaubens zu Hilfe und erlegen zwei gewaltige Bären. Sie stiften Gerechtigkeit, indem sie den korrupten Abdahn Effendi seiner Schandtaten überführen, und sie erfüllen damit gleichzeitig das inbrünstige Gebet des Müllers, Gott möge ihnen einen Christen senden und sie von Abdahn "nebst allen seinen Schmugglern, Dieben und Betrügern" erlösen.

In einem Nachsatz wird die symbolische Lesart der Novelle erläutert: May führt seine Leser durch eine Seelenlandschaft, denn "Dschan" heißt "Seele", "Abdahn" bedeutet "Leib", und beides zusammen versinnbildlicht hier den Leibesmenschen, dem die Seele fehlt. Die holzschnittartige Physiognomie der türkischen und persischen Grenzposten - hie der habsüchtige und daher vogelgesichtige türkische Oberst, dort der betrügerische und daher mardergesichtige persische Leutnant - tut ein übriges, um die Figuren zu charakterisieren.

"Merhameh", die zweite Erzählung, Mays letzte Marienkalendergeschichte und seine letzte Erzählung überhaupt, entstand 1910. Hier geht es um zwei eng miteinander verwandte Beduinenstämme, zwischen denen die Blutrache bereits vielfach gewütet hat, ehe Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar als Eskorte von Merhameh ("Barmherzigkeit") den Schauplatz des gewaltsamen Reigens betreten - das östliche Ardistan, "tief im orientalischen Hinterland" - und Frieden stiften.

"Schamah", die dritte Erzählung, führt ins Gelobte Land und nach Jerusalem. Der Ich-Erzähler und seine Frau haben sich mit Mustafa Bustani, einem reichen judarabischen Händler angefreundet. Mustafas Bruder war von der Familie einst verstoßen worden: Er hatte sich taufen lassen und eine Christin geheiratet. Inzwischen anderen Sinnes, sehnt sich Mustafa nach dem Bruder, träumt, dieser sei gestorben, sckicke ihm aber "Verzeihung" ("Schamah"). Und tatsächlich kommen von Osten Frau und Tochter des Verstorbenen und werden von Mustafa aufgenommen.

"Eine Weihnachtsfeier in Damaskus" erzählt, wie Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar einer Gruppe Aussätziger in der Nähe von Damaskus ein Weihnachtsfest ausrichten und wie der Pascha von Damaskus seines Amtes enthoben wird. Aus Karl Mays Nachlass stammt die Erzählung "Der Zauberteppich", die - ebenso wie die anderen Texte des Bandes - als Gleichnis angelegt ist und in die Entstehungszeit des Romans "Und Friede auf Erden" fallen dürfte.

Mit der Vorlage dieser späten symbolischen Erzählungen demonstriert der Karl May Verlag erneut seine bedeutende Marktposition. Die Texte hat er gegen Übernahmen geschützt, handelt es sich bei den "Gesammelten Werken" doch durchweg um Bearbeitungen. Selbst die Titel der einzelnen Bände stammen zum Teil nicht mehr von Karl May, wie sich etwa anhand des Lieferungsromans "Das Waldröschen" (1902-1903) demonstrieren lässt: Bei Münchmeyer, dem Originalverlag, hießen die einzelnen Bände noch "Die Tochter des Granden" (1902), "Der Schatz der Mixtekas" (1902), "Matavase, der Fürst des Felsens" (1902) und "Erkämpftes Glück" (1902/03), beim Karl May Verlag heißen sie "Schloß Rodriganda", "Die Pyramide des Sonnengottes", "Benito Juarez", "Trapper Geierschnabel" und "Der sterbende Kaiser".

Andere Verlage, die mit diesen Titeln Geschäfte machen wollten, sind am Urheberrecht gescheitert. Das Werk selber freilich ist gemeinfrei und kann in seiner originalen Gestalt von jedermann nachgedruckt werden. Dies haben sich unter anderem Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger zunutze gemacht, als sie 1987 begannen, bei Franz Greno "Karl Mays Werke" als historisch-kritische Ausgabe herauszubringen. Nach Grenos Konkurs wurde die Ausgabe im (auch nicht mehr existierenden) Zürcher Haffmans Verlag weitergeführt, und seit 1993 ist das Bücherhaus Bargfeld der Ort, wo die "verlässliche[n]" Karl-May-Ausgaben und die "in ihrer Entstehung durchschaubare[n] Texte aller Schriften" vorgelegt werden sollen.

Hervorhebenswert ist, dass Wiedenroths Ausgabe jetzt als digitale Karl-May-Bibliothek vorliegt. Sie umfasst circa 70.000 Buchseiten und dokumentiert das in den letzten Jahren kaum vorangekommene Editionsvorhaben in einem frühen Stadium.

Die Textgrundlage der digitalen Ausgabe bilden die Erstdrucke, die autorisierten Nachdrucke sowie die Ausgaben letzter Hand, zunächst ohne kritischen Apparat. Die CD-ROM enthält das Frühwerk, die Fortsetzungsromane, die Erzählungen für die Jugend, die Reiseerzählungen und das Spätwerk: "Mit über 80 Bänden ist so nahezu das komplette literarische Werk Karl Mays elektronisch im Volltext erschlossen."

Hinzu kommen die autobiographischen Schriften, eine Fotosammmlung Karl Mays mit 494 zeitgenössischen Porträtaufnahmen (das sogenannte "Leseralbum") und eine Karl-May-Chronik von Volker Griese mit den wichtigsten Daten zu Leben und Werk. Die Paginierung richtet sich bei 49 Bänden nach der "Bibliotheksausgabe", sonst nach zeitgenössischen Drucken. Die bibliographischen Nachweise folgen Hainer Plauls Standard-Bibliographie.

Ohne das Archiv des Herausgebers und ohne ergänzende Materialien von Sammlern freilich wäre diese CD-ROM in dieser Vollständigkeit nicht möglich gewesen. Mit ihr lässt sich wunderbar nach Zitaten suchen, vorausgesetzt, man hat die historische Orthographie richtig in die Suchmaske eingegeben, was aufgrund der zahlreichen Modernisierungen und sonstigen Eingriffe in den am meisten verbreiteten Ausgaben mitunter schwierig sein dürfte.

Damit ist auch schon der größte Nachteil der Edition und ihrer Suchfunktion benannt: Man muss Begriffe und Namen, die man sucht, in der historischen Schreibung und auch vollständig eingeben. Wenn man also nach Heinrich Gotthold Münchmeyer sucht, dem Kolportage-Buchhändler, und nicht genau weiß, wie er sich am Ende schreibt, ob "~meier" oder "~maier", "~meyr" oder "~mayr", "~meyer" oder "~mayer", so genügt es nicht, einfach nur das naheliegende "Münchm" einzugeben, um zu den entsprechenden Einträgen geführt zu werden. Eine Konkordanz und besser noch: der Text aller gängigen Ausgaben mit allen Varianten wäre die optimale, freilich wohl weder finanzierbare noch von den miteinander konkurrierenden Verlagsunternehmen gewünschte Alternative.

Begnügen wir uns also mit dem, was geboten wird. Etwa mit Band 83 der "Gesammelten Werke", "Am Marterpfahl", einem Reader, der nicht etwa Indianergeschichten enthält, sondern "Karl Mays Leidensweg", erneut abgeschritten nach den autobiographischen Schriften "Ein Schundverlag" (1905), "Ein Schundverlag und seine Helfershelfer" (1909), "An die 4. Strafkammer des Königlichen Landgerichts III in Berlin" (1911) sowie einem "Begleitwort" (in der Erstfassung von 1910). Es sind allesamt prominente Texte, die dokumentieren, wie sehr sich der betagte Karl May den verdienten Lebensabend verdunkeln ließ und wie sehr sich die späte Tragik seiner frühen Verstrickungen in den Münchmeyer Verlag auf seine ohnehin schon angeschlagene Gesundheit auswirkte.

Seit die regressiven Schübe, die uns horazisch alle sieben Jahre ereilen, mit literaturwissenschaftlichem Interesse bemäntelt werden können, leben wir sie voll aus. Die Verlage schaffen die besten Voraussetzungen dafür, indem sie stetig neue Ausgaben in teils neuen Zusammenstellungen und Bearbeitungen vorlegen, so dass der großen Lesergemeinde der Stoff nie ausgeht. Sollte aber das Werk Karl Mays dennoch eines Tages komplett vorliegen, in den kleinen grünen Bänden des Karl May Verlags ebenso wie in den - zum Teil berühmten und gesuchten - Reprints der Originalverlage wie Fehsenfeld und Münchmeyer oder gar in der Historisch-kritischen Ausgabe, die Hermann Wiedenroth einst mit den Pleitiers Greno und Haffmans zu realisieren suchte, so wird dieser sicherlich lebendigste und umkämpfteste Markt zu alternativen Lösungen kommen - und dies kann dan fast so spannend sein wie Karl May selbst.

Titelbild

Karl May: Abdahn Effendi. Reiseerzählungen und Texte aus dem Spätwerk von Karl May.
Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid.
Karl May Verlag, Bamberg, Radebeul 2000.
473 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3780200813

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Titelbild

Karl May: Am Marterpfahl. Karl Mays Leidensweg. Autobiographische Schriften.
Mit einem Vorwort von Christoph F. Lorenz.
Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid.
Karl May Verlag, Bamberg, Radebeul 2001.
495 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 378020083X

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Titelbild

Karl May: Der Bowie-Pater und andere Erzählungen.
Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid.
Karl May Verlag, Bamberg, Radebeul 2003.
512 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3780200848

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Titelbild

Karl May: Karl Mays Werke. CD-ROM.
Hermann Wiedenroth.
Directmedia Publishing, Berlin 2003.
70.000 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3898531775

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