Damals ist Heute

Birgit Bauers Roman "Federhaus der Zeit"

Von Agnes BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"DU BIST eines von fünfundvierzig Kindern. [...] Du weißt nicht, wo du bist. Du kennst weder den Namen des Dorfes noch den der nächstgrößeren Stadt. Aber du weißt, woher du kommst. Aus H. Du bist fünf Jahre? Oder erst vier? Du fühlst dich uralt. Die Farbe deiner Haare ist rot. Dein Kopf gleicht dem Rücken eines Igels. Eine Tante hat dir den Kopf rasiert, wegen der Läuse. Du legst die Hand an die Haarstoppeln, das kitzelt in der Handfläche und auf der Kopfhaut. Du träumst von Haaren bis zum Po. Das ist dein Traum. [...]

DU BIST achtundzwanzig Jahre. Du arbeitest als Serviererin in einem Restaurant auf Sylt und wohnst in einer Laube, im Garten hinter dem Lokal. Deine Haare sind rot und lang. Daß sie lang sind, ist nicht zu erkennen. Mit Haarnadeln und Taft hast du sie zu einer Hochfrisur aufgesteckt. Du bist eine schöne Frau. Männer begehren dich. [...] Das Leben der anderen ist bunt. Deines nicht. Glaubst du."

Die Kindheit von Lisa ist alles andere als glücklich und unbeschwert. Sie ist ein "Heimkind", deren Mutter sie bis auf die sonntäglichen Besuche eher vernachlässigt. Die Mutter scheint Lisa zwar nicht missen zu wollen, ist aber nie präsent. Beide leben aneinander vorbei, obwohl sie viel füreinander empfinden und aufeinander angewiesen sind.

Was Lisa aufgrund des eisernen Schweigens und der stets herrschenden Distanz nicht weiß: ihre Mutter ist ein Lebensbornkind, wurde zu Nazizeiten gezeugt, um die arische Linie zu perfektionieren, kam bis zur Pubertät in eine Pflegefamilie, um danach mit ihrer reinen Abstammung weitere Nachkommen zu zeugen - doch bevor es soweit kommen konnte, endete die Herrschaft Hitlers.

Die Mutter lebte daraufhin in der DDR, flüchtete in den Westen und bekam dort Lisa, die nun ihr Leben zur Zeit des Wirtschaftswunders führt, ohne von der Vergangenheit der Mutter zu wissen. Dadurch, dass die Mutter Lisa nicht an ihrer bewegten Vergangenheit teilnehmen lässt, verirrt sich Lisa in ähnlicher Problematik - nur eben zu einer anderen Zeit.

Die Kindheiten von Mutter und Tochter werden von der Autorin bewusst parallel erzählt: "Auf die Idee bin ich durch meine Filmerfahrungen gekommen. Parallelmontagen finde ich spannend. Sie ermöglichen ein sehr dichtes Erzählen, Ursache und Wirkung zu verschränken. Zudem ensteht dabei eine zusätzliche Geschichte, die ohne Worte bzw. Bilder erzählt wird und allein der Assoziation des Lesers bzw. des Zuschauers vertraut."

Durch diese Parallelmontage - die anfangs sehr irritiert, nach und nach aber mehr und mehr ihre Vorzüge preisgibt - werden die Gemeinsamkeiten der beiden Kindheiten auf bemerkenswerte Art deutlich und der Leser schwebt in einer Art höherer Dimension über den Geschehnissen - im Damals ebenso wie im Heute.

Die Lebensumstände von Lisa und ihrer Mutter verstricken sich leise und sanft, aber deutlich, miteinander. Teilweise fühlt man sich wie im Kino - nicht wie bei der Lektüre eines Buches.

Lisa wird mehr und mehr aktiv, fordert Erklärungen von ihrer Mutter, recherchiert und verbindet für sich und den Leser die anfangs wenigen Schnittlinien zu EINER Geschichte: dem Schicksal von Lisa und ihrer Mutter ...

Die Schreib- und Darstellungsweise der Autorin erschlägt oftmals, vor allem am Anfang der Lektüre. Meist passend kommen "seichtere" Passagen, welche die Lektüre insgesamt anspruchsvoll aber nicht zu anstrengend gestalten. Man braucht eine gewisse Zeit, um sich an Bauers Stil zu gewöhnen, dann aber empfindet man den Montagestil als spannend und abwechslungsreich. Der Roman ist raffiniert geschrieben, und die Autorin benutzt reizvolle, unkonventionelle Stilmittel. Eine gelungene, spannende Montage des Lebens zweier Individuen.

Titelbild

Birgit Bauer: Im Federhaus der Zeit. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
384 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421056994

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