Akrobatik mit Selbstgewinn
Sechs Verführungen von Ludwig Harig
Von Lutz Hagestedt
Hieronymus Bosch, "Apologet und Maler der verdrängten Begierden", befreit sich durch Malen von der Trunksucht. Eine Erzählergesellschaft streitet sich um Sinn und Unsinn christlicher Wallfahrt. Roland, Franzose und Globetrotter, erzählt den Stubenhockern vom grausam-spannenden Stirb und Werde der Wildnis. Leo Szilard, amerikanisch-ungarischer Kernphysiker, bittet Albert Einstein um einen Beistandsbrief an Präsident Roosevelt. Ein Schriftsteller sucht das Auenthal des Schulmeisterleins Wutz - und Pelé macht sich Gedanken über seinen "Kniekomplex".
"Verführungen" nennt Ludwig Harig die sechs Erzählungen seines neusten Buches. Weshalb Verführungen? Vielleicht, weil Hieronymus Bosch ein Verführter gewesen ist? Oder deshalb, weil uns sein Erzähler Benedikt zum Wunderglauben der Benedette Soubirous aus Lourdes bekehren möchte? Weil Leo Szilard glaubte, mit dem Bau der Atombombe dem Teufel gedient zu haben?
Jeder Erzählung ist ein kurzes Zitat vorangestellt. So schreibt Albert Einstein an Max Born: "Ich habe mit viel Interesse Deinen Vortrag gegen die Hegelei gelesen, welche bei uns Theoretikern das Don Quijotische Element ausmacht oder soll ich sagen, den Verführer?" Verführung und Fantasie, ja Fantastik gehören zusammen, im Guten wie im Bösen, wo etwas Neues entsteht oder entstehen soll, wo unser "Wirklichkeitssinn" auf die Probe gestellt wird, wo die Grenzen unserer Sprache als Grenzen unserer Welt erkannt und womöglich erweitert werden sollen. Harigs Geschichten erzählen von Grenzgängen. Am anrührendsten ist vielleicht die Titelerzählung "Pelés Knie". Ihr Motto lautet: "Die Akrobatik mit ihrem Selbstgewinn ist die größte Versuchung des Menschen." Am verführerischsten wohl die Reise in "Jean Pauls Kinderland", eine zauberhafte Liebeserklärung an einen geistes- und seelenverwandten Autor. Am verstörendsten ganz sicher der Tod einer jungen Frau auf ihrer Pilgerfahrt nach Lourdes. Und am nachdenklichsten die Geschichte des Leo Szilard, der den Tag der ersten Kernreaktion als Schöpfungstag einer neuen Welt begreift: "Er wird als der schwärzeste Tag in die Geschichte der Menschheit eingehen."