Auch bei Wehler machen Männer Geschichte

Christoph und Sebastian Conrads Sammelband zum Historiographievergleich

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Geschichtswissenschaft hat sich in den vergangenen Jahren zu einem beständig expandierenden Forschungsfeld entwickelt. Die Literatur über Historiker im Nationalsozialismus und in der DDR ist qualitativ und quantitativ beachtlich, auch die bundesdeutsche Geschichtsschreibung und ihre Verfasser sind schon öfter Gegenstand hervorragender Studien gewesen. Ferner erschienen in der letzten Zeit zahlreiche Historikerbiographien; u. a. über Gerhard Ritter und Franz Schnabel. Dissertationen über Theodor Schieder und Hans Rothfels sind im Entstehen.

Der Forderung, nicht bloß nationalzentriert, sondern stärker vergleichend zu arbeiten, können sich natürlich auch mit der Entwicklung des eigenen Faches beschäftigte Historiker auf Dauer nicht entziehen. Daher ist der vorliegende, von dem Genfer Historiker Christoph Conrad und seinem Berliner Kollegen Sebastian Conrad herausgegebene Sammelband - dies sei gleich vorweggenommen - für jeden an der Geschichte der Geschichtswissenschaft interessierten Historiker unverzichtbar.

Der einleitende Aufsatz der Herausgeber bietet einen Überblick sowohl über die bislang erschienene Forschung als auch über die diversen Möglichkeiten des Vergleichs. Christoph und Sebastian Conrad wenden sich gegen eine "Historiographie der Gewissheit", welche die Entwicklung der Geschichtswissenschaft als einen linearen Fortschritt beschreibt. Historiographiegeschichte habe "nicht selten zur Legitimierung des eigenen, 'neuen' Paradigmas" gedient. Besonders in den sich vom Historismus distanzierenden Studien sei dies zu bemerken. In diesem Urteil zeigt sich die Perspektive einer jüngeren Historikergeneration, die sich von ihren den Fortschritt stets für sich reklamierenden "Vätern" absetzen möchte und dabei - ebenso wie diese "Väter" - zuweilen wohl etwas über das Ziel hinausschießt. Denn es leuchtet zwar ein, dass eine rein teleologische Interpretation, die etwa die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft als letztlich erfolgreichen langen Weg nach Westen beschriebe und die Standortgebundenheit der heutigen Historiker vernachlässigte, zu kurz greift. Aber andererseits kann man durchaus behaupten, dass die gegenwärtige deutsche Geschichtswissenschaft sich gegenüber den 1950er Jahren weiterentwickelt hat - auch und gerade die in diesem Band versammelten Reflexionen über das eigene Fach sind ein Beweis dafür.

In methodischer Hinsicht werben Conrad und Conrad für eine Überwindung der Dichotomie Vergleich - Beziehungsgeschichte. Ein sinnvoller Vergleich sei ohne die Frage nach gegenseitigen Einflüssen oft gar nicht machbar; letztlich hänge dies aber immer von der jeweiligen Fragestellung ab. Anschließend werden einige Ansätze der Historiographiegeschichtsschreibung (geistesgeschichtlich, politikgeschichtlich, kulturgeschichtlich, u. a.) vorgestellt und verschiedene Vergleichsobjekte skizziert - schließlich kann man nicht nur nationale Historiographien vergleichen (wobei unterschiedliche Entwicklungslinien innerhalb eines Landes oft vernachlässigt werden), sondern auch historische "Schulen" oder einzelne Historiker.

Die nachfolgenden Aufsätze bieten dann eindrucksvolle Beispiele für die vielfältigen Möglichkeiten des Historiographievergleichs. Die Entwicklung der japanischen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (und ihr Vergleich mit der deutschen zur selben Zeit) zeigt, dass die Suche eines besiegten Landes nach Orientierung seine Historiker auch auf ganz neue Wege führen konnte - und nicht, so wie in Deutschland, zurück auf die alten. Beiden Geschichtswissenschaften gemeinsam war jedoch die Fixierung auf die Nation als privilegierten Untersuchungsgegenstand.

Mit ganz anderen Problemen haben russische Historiker ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu kämpfen. Zwar besteht in Russland nach wie vor ein großes öffentliches Interesse an der eigenen Geschichte, aber das anfängliche Bedürfnis nach einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Stalinismus ist inzwischen durch das Verlangen nach historischen Mythen verdrängt worden. In populärwissenschaftlichen Studien wird das zaristische Regime verklärt; seit dem Wechsel von Jelzin zu Putin sind allerdings auch die vermeintlichen Errungenschaften der kommunistischen Ära wieder in den Vordergrund getreten. Die Fachhistoriker spielen im öffentlichen Diskurs keine besonders wichtige Rolle, es sein denn, sie verlegen sich wieder auf die "aus der sowjetischen Epoche ererbte grobe Instrumentalisierung der Geschichte" - wenn auch unter anderen Vorzeichen.

Zu überraschenden Ergebnissen kommt Gabriele Lingelbach in ihrem Beitrag über die französische und amerikanische Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, der zugleich auch Vor- und Nachteile der beiden Ansätze "Kulturtransfer" und "Vergleich" diskutiert. Nicht nur erweist sich der angeblich so prägende Einfluss der deutschen Geschichtswissenschaft auf ihr französisches und amerikanisches Pendant bei genauerer Analyse als schwächer als bislang angenommen, sondern die Wahrnehmung der deutschen Historie in Frankreich und den USA war "selektiv und teilweise verfälschend".

Die eigentliche in dem Sammelband enthaltene Sensation betrifft jedoch die Bewertung der deutschen Historischen Sozialwissenschaft im Allgemeinen bzw. ihres Nestors Hans-Ulrich Wehler im Besonderen. Bereits Thomas Welskopp verweist in seinem Vergleich der Strukturgeschichte Conzescher Prägung mit der Historischen Sozialwissenschaft darauf, dass man statt auf die Abfolge klar voneinander abgrenzbarer Paradigmen auf Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung achten sollte. Sein durchaus überzeugend begründetes Fazit lautet, dass sowohl Strukturgeschichte als auch kritische Sozialgeschichte "grundlegenden Auffassungen des Historismus verpflichtet" blieben.

Paul Nolte aber geht schließlich in seinem Vergleich der wichtigsten in den vergangenen Jahrzehnten erschienenen Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte, Thomas Nipperdeys "Deutscher Geschichte" und Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte", noch einen Schritt weiter. Bislang galt Nipperdey als Historiker, bei dem die "großen Männer" den Gang der Geschichte bestimmten - "am Anfang war Napoleon" begann der erste, "am Anfang war Bismarck" der dritte Band von Nipperdeys "Deutscher Geschichte. Bei Wehler hingegen standen Strukturen und Prozesse im Vordergrund - "am Anfang war keine Revolution". Die genauere Lektüre, so Nolte (ein Schüler Wehlers), lasse jedoch nicht nur darstellerische Parallelen erkennen - wohl auch, weil Nipperdey und Wehler gegeneinander anschrieben -, sondern Nipperdey erweist sich "im Gegensatz zu Wehler [als] ein Strukturhistoriker par excellence". Wehler hingegen konzentriere sich trotz seines sozialwissenschaftlichen Instrumentariums in hohem Maße auf das Handeln einzelner Personen, der so genannten "großen Männer" wie zum Beispiel Bismarck. Gerade auch nach dem Erscheinen des vierten Bands der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte", in der Wehler auffallend hitlerzentrisch argumentiert, erscheint die Einschätzung Noltes durchaus plausibel.

Dieses letztgenannte ist nur das eindrücklichste Beispiel dafür, wie lohnend der methodisch reflektierte Vergleich für die Geschichte der Geschichtswissenschaft sein kann. Auch wenn einige der Beiträge im Vergleich mit den vorgestellten etwas abfallen, ist der vorliegende Sammelband in jedem Falle zu empfehlen.

Titelbild

Christoph Conrad / Sebastian Conrad: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002.
400 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3525362609

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