Hochmuts-Künstler

Elias Canetti schildert in "Party im Blitz" seine englischen Jahre

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

18.921 Tonnen Bomben, 13.339 getötete Zivilisten, knapp 200.000 Obdachlose. Das sind die nackten Zahlen, die für den sogenannten Blitz stehen, der London zwischen September 1940 und Mai 1941 heimsuchte. Dabei handelte es sich nicht um ein meteorologisches Phänomen, sondern die deutsche Luftwaffe machte die britische Kapitale in über siebzig Angriffen zur Frontstadt. Zu den unmittelbar vom Krieg getroffenen Bewohnern zählte auch das Ehepaar Canetti, das sich vor Hitler auf die scheinbar sichere Insel geflüchtet hatte. "Wir leben noch", meldete Canettis Frau Veza nach einer längeren brieflichen Pause dem gemeinsamen Freund Franz Baermann Steiner am 19. September 1940 in das von deutschen Angriffen verschonte Oxford, "und sind auch in London, aber während die anderen in ihren Häusern und shelters auf die Bomben warten, haben wir gewöhnlich nicht den Zins für das Zimmer, das über uns einbrechen wird, und diese Dinge ist man zu unlustig zu schreiben."

Lustig genug ging es aber auf jener "Party im Blitz" zu, die der lange erwarteten Fortsetzung der Autobiographie von Elias Canetti den Titel verdankt. Auf der Festivität blieben die Gäste auch angesichts eines schweren deutschen Angriffs gelassen: "Die Atmosphäre war dicht und heiß, und niemand kümmerte sich darum, daß man Bomben-Einschläge hörte, eine furchtlose und dabei sehr lebendige Gesellschaft." Selbst als einige Häuser der Straße in Brand geraten, will man nicht von dem Menschen lassen, den man gerade umschlungen hält. Die Sucht nach Leben ignorierte sogar die Löschanstrengungen der Luftschutzwarte: "Die Türe nach außen wurde aufgerissen, Männer in Feuerwehrhelmen griffen nach Kübeln mit Sand, die sie im Schweiß ihres Angesichts in größter Geschwindigkeit hinaustrugen. Sie achteten auf nichts, das sie im Raum vor sich sahen, in ihrer Eile, die brennenden Häuser in der Nachbarschaft zu schützen, griffen sie wie blind nach den sandgefüllten Kübeln. Es muss eine Unzahl davon gegeben haben, die Paare [...] hielten sich weiter umschlungen, niemand sprang auf, kein Mensch löste sich vom andern, es war, als ginge sie das keuchende, verschwitzte Treiben überhaupt nichts an, zwei verschiedene Tierarten, die einander aus dem Wege gingen."

Mit "Die gerettete Zunge" (1977), "Die Fackel im Ohr" (1980) und "Das Augenspiel" (1985) zählt der 1994 in Zürich verstorbene Elias Canetti zu den bekanntesten Autobiographen der Literaturgeschichte. In diesen drei Bänden schilderte Canetti seine Lebensgeschichte bis zum Jahr 1937. Wer erinnert sich nicht an den Mutter-Sohn-Konflikt um den Erwerb der deutschen Sprache? Wer hat die Schilderung des brennenden Wiener Justizpalastes vergessen, dem wohl prägenden Erlebnis des Verfassers von "Masse und Macht"? Wer ist nicht gern mit Canetti im Café Museum gesessen? Kaum ein Leser dürfte diese Episoden aus dem Gedächtnis verloren haben. Aber Canetti schrieb nicht nur über sich, sondern er lieferte zudem zahllose Porträts von berühmten und unbekannten Zeitgenossen aus Kunst, Literatur und Musik, die ihm viel, bisweilen aber auch rein gar nichts bedeutet haben. Die autobiographische Erzählung endete mit dem 32-jährigen Protagonisten, der nach dem Erscheinen des legendären Romans "Die Blendung" gerade zu dem geworden war, was er immer schon hatte sein wollen: Autor.

Die Spatzen hatten es seit Jahr und Tag von den Dächern gepfiffen, dass sich im noch bis 2024 gesperrten Nachlass von Elias Canetti ein Manuskript befindet, das die Selbstbiographie um die englischen Jahre fortsetzt. Die Gerüchte waren nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Canetti hatte Anfang der 90er Jahre mehrere Anläufe gemacht, die ursprünglich auf fünf Teile angelegte Autobiographie fortzuführen. Der Tod, den er stets als größten Feind begriffen hat, hat diesen Plan zunichte gemacht. Der Herausgeber hatte die Aufgabe, aus vier überlieferten Fragmenten einen lesbaren Band herzustellen. Das ist nicht immer gelungen, vor mancher Wiederholung ist man nicht gefeit. Um einen meisterhaft durchkomponierten Text handelt es sich naturgemäß nicht, eher um tagebuchartige Aufzeichnungen. Auch sonst entspricht "Party im Blitz" nicht ganz den Erwartungen. Vor allem müssen diejenigen - der Verfasser dieser Zeilen gehört dazu - enttäuscht sein, die darauf hofften, mehr über Elias Canettis Dasein im englischen Exil zu erfahren. Von seiner Arbeit erfährt man lediglich das asketische Credo: "Vom ersten Tag in England an war es mein Ziel gewesen, mich ausschließlich der Arbeit an ,Masse und Macht' zuzuwenden. Nichts anderes sollte zählen, keine ,Literatur' war erlaubt. Ich wollte mir alles versagen, was mich ablenken konnte." Auch das Privatleben wird nahezu ausgeblendet. Seine Frau Veza, als Schriftstellerin erst seit kurzem entdeckt, spielt kaum eine Rolle. Dabei hat sie Canettis Arbeit nach Kräften unterstützt, etwa indem sie die Kärrnerarbeit der Übersetzerin verrichtete und so für den Lebensunterhalt beider sorgte. Auch dieser täglich geführte Kampf ums Überleben, die Existenz von der Hand in den Mund, ist Canetti kaum der Rede wert. Selbst der Krieg - der unglücklich gewählte Titel verspricht da ganz anderes - wird kaum thematisiert. Am eindrücklichsten noch in einer Episode, die von den Milburns berichtet, außerhalb Londons lebender Pfarrersleute, bei denen Elias und Veza Canetti Unterschlupf fanden, als viele Menschen die Nacht für Nacht angegriffene Stadt verließen. Mr. Milburn hielt Hitler für den Satan persönlich. Auch deshalb wollte seine Frau nichts von den Angriffen wissen: "Solche Dinge liebte Mrs. Milburn weder auszusprechen noch zu hören. ,Das Böse ist nicht wirklich', sagte sie sanft, 'das Böse ist eine Einbildung von uns.' ,Und die Bomben?', fragt Veza [...] ,Die Bomben bilden wir uns ein', sagte Mrs. Milburn." Mr. Milburn verliert die Angst vor den Bombern nur, wenn er mit Canetti Hölderlin-Exerzitien treibt: "Vielleicht trägt der Pilot einen Hölderlin in der Tasche." Doch die Angst kehrt wieder. Wenn die Bomberpulks auf England einschwenken, sucht das Ehepaar Schutz unterm Küchentisch und ist mucksmäuschenstill: "Wenn es lange dauerte, wurden die Milburns hungrig. Sie sagten es nie, ihre Befürchtung, dass ein Pilot oben durch ihre Stimmen auf sie aufmerksam werden könnte, setzte nie aus, aber wenn Veza ihnen das Essen unterm Tische zuschob, lappten sie es gierig auf wie Hunde."

Der Krieg als Voraussetzung für die Vernichtung der europäischen Juden kommt nur an einer Stelle zur Sprache, die dafür umso bemerkenswerter ist. Auf der immerwährenden Suche nach Gesprächspartnern traf Canetti, der unter der mangelnden Akzeptanz des Exilanten litt, einen Straßenkehrer: "Er führte ruhig seinen Besen, als ob viel Zeit wäre, stützte sich auf ihn, wenn er eine Pause machte und blickte dann unverrückbar vor sich hin. Er faßte jeden ins Auge, der des Weges daherkam, grüßte aber nur manche. Mit ganz wenigen aber ließ er sich auf Gespräche ein. Er war der, der ansprach, es wäre einem absonderlich vorgekommen, selbst damit zu beginnen, denn seine Tätigkeit als Straßenkehrer hätte bei anderen etwas wie Herablassung hervorrufen können." Alles beeindruckte Canetti an diesem Mann: dessen langsame, artikulierte Sprechweise; die biblischen Vokabeln, die er benutzte; die klugen Fragen, die der Befragte nicht beantworten konnte. "Ich lernte im Lauf einiger Jahre viele Menschen kennen", schreibt Canetti, "die an diesem Orte lebten. Er war der einzige, den ich von ganzem Herzen liebte. Eines Tages, als man das Schrecklichste erfahren hatte, diesmal in Einzelheiten und unwiderlegbar, machte er zwei Schritte auf mich zu, was er noch nie getan hatte und sagte: ,Es tut mir leid, was jetzt Ihren Leuten geschieht', ,your people', sagte er und fügte hinzu: ,Es sind auch meine Leute.'"

Oft stehen die von Canetti vorgestellten Menschen aber für weniger ernste Themen. Wie gewohnt frönt er seiner Vorliebe für skurrile Figuren und findet sogar anerkennende Worte für den größten Rhododendron-Kenner der Zeit. Die Erwähnung von derartig vielen Personen, welche die Lektüre des Anmerkungsapparats genauso nötig macht wie jene des kundigen Nachworts, das vom Londoner Germanisten Jeremy Adler stammt, war für Canetti wohl eine Art Exorzismus, wie er zugibt: "Ich will mich vom Überfluß an englischen Figuren befreien. Doch wähle ich nur solche aus, die ich für besonders charakteristisch halte. Ich möchte, daß sie zusammen ein Bild Englands geben, wie es um die Mitte dieses Jahrhunderts war." Einer jener Exzentriker war Arthur Waley, ein bekannter Sinologe und Übersetzer, von dem Canetti vor allem deshalb beeindruckt gewesen ist, weil er seiner Meinung nach der einzige Brite war, der den Roman "Die Blendung" kannte, noch bevor er ins Englische übersetzt worden ist. Als Waley erfuhr, dass das Buch einen Sinologen zum Helden hatte, ließ er ihn sich kommen, und erfuhr, dass dieser Protagonist "über Frauen nicht viel anders dachte als er". Waley habe für die Etablierung einer "Schreckensherrschaft des Urteils" gesorgt. So zertrümmerte er im Vorübergehen - auf einer Party von dieser angesprochen - Veza Canettis Lieblingsdichtung, Goethes "Faust", mit den Worten: "Very bad writing". Da verwundert das folgende Fazit nicht: "Der Hochmut bei Engländern ist so eingefleischt, daß man ihn oft nicht einmal bemerkt. Das sind dann die wahren Hochmuts-Künstler." Die kaum herstellbare Nähe zu den Menschen beschäftigt Canetti wiederholt: "Distanz ist eine Hauptübung der Engländer. Sie kommen einem nicht nah. Sie wollen, sie dürfen einem nicht nahe kommen. Zu ihrem Schutz hüllt sich die Person in Eis. Außen wird alles zurückgespielt. Drinnen friert man."

Zu Canettis Exil-who-is-who zählt neben dem Lyriker und Ethnologen Franz Baermann Steiner auch die Schriftstellerin Iris Murdoch. Die Porträts zeugen von Canettis Kunst, in wenigen Strichen eine Persönlichkeit zu zeichnen. Das Bild, das Canetti von Steiner gibt, ist von tiefer Zuneigung geprägt. Steiner stammte aus Prag und kam 1939 nach London, um an der dortigen School of Economics sein Studium fortzusetzen. Als Hitlers Wehrmacht die Tschechoslowakei "zerschlug", wurde er unfreiwillig zum Exilanten. Seine Eltern blieben zurück und fielen der NS-Mordmaschinerie zum Opfer. Vergleicht man die Lebenswerke beider, dann wird man eine Beziehung kaum übersehen können. Wie "Masse und Macht" oszilliert Steiners Werk zwischen den Polen Wissenschaft und Literatur, ja Canetti hat ohne Zweifel in seinen ethnologischen Teilen Entscheidendes dem gelehrten Freund zu verdanken: "Er war frei in Mythen. Er war der einzige Mensch, den ich gekannt habe, mit dem ich über Mythen sprechen konnte. Nicht nur kannte er viele und konnte mich so gut mit welchen überraschen wie ich ihn: er tastete sie nicht an, er deutete sie nicht, er machte keinen Versuch, sie nach wissenschaftlichen Prinzipien zu ordnen, er ließ sie in Ruhe." Aber die Nähe zu Steiners relativ unbekanntem Œuvre geht noch weiter: Auch er hat - wie Canetti - ein riesiges Reservoir von Aphorismen und Aufzeichnungen hinterlassen, vieles ähnelt sich verblüffend. Es gilt als das Verdienst von Canetti, Steiner diese Kurzprosa nahegebracht zu haben.

Kurz vor seinem Tod soll sich Steiner mit Iris Murdoch verlobt haben. Durch Steiner hat auch Canetti die Philosophin kennen gelernt. Von Zuneigung ist in diesem Porträt freilich nichts zu spüren, ja man ist bestürzt über die Lektüre. Man erfährt beispielsweise, Iris Murdoch sei auf unschönen Füßen den Gang eines abstoßenden Bären gegangen. Sie sei voller "weiblicher Berechnung" gewesen, da sie ihre - ungezählten - Liebhaber um ihren Verstand, weniger um ihr Herz habe berauben wollen. Nichts an ihr sei originär gewesen, so apostrophiert er Iris Murdoch als "Oxford-Ragout" und gar als "Gesamt-Parasit". Trotzdem verschweigt Canetti nicht, dass auch er sich auf eine sexuelle Affäre mit ihr eingelassen hat. Gleichwohl habe ihn der Vorgang kalt gelassen: "Es ist mir dieses eine Mal in meinem Leben geschehen, dass ich mit einer Frau zusammen war, die mich zum Lieben gar nicht fesselt." Diesen Kommentar zum Koitus fügt Canetti in Klammern hinzu. Nur einen versöhnlichen Zug konnte er Iris Murdoch abgewinnen: "In ihren Gefühlen für alle war Iris eine Dichterin. Keinen, den sie verstanden zu haben glaubte, vergaß sie und vergaß nicht, ohne eigentlich zu lügen, noch nach vierzig Jahren über jemanden wie Franz Steiner zum Beispiel, so zu sprechen, als wäre er die eine, große Liebe ihres Lebens gewesen."

Titelbild

Elias Canetti: Party im Blitz.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
2408 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446203508

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