Der lange Weg zum Ich
Jean-Marie Gustave Le Clézios neuer Roman "Fisch aus Gold"
Von Christina Muth
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls sechsjähriges Mädchen wird die im Süden Marokkos geborene Laila geraubt und in den Norden des Landes, nach Rabat, verkauft. An ihre Vergangenheit hat sie keinerlei Erinnerungen, nur zwei Ohrringe in Form einer Mondsichel sind ihr als Zeichen ihres Stammes, den Hilal geblieben. Sie wächst bei ihrer "Herrin", der sie als Magd dient, auf, die sie liebevoll wie eine Großmutter behandelt. Nach deren Tod findet Laila in einem Bordell ihr Auskommen oder "verdient" sich Geld durch Betrug und Diebstahl. Ihre Odyssee setzt sich fort, als sie auch von dort fliehen muss und schließlich nach Paris gelangt. Von der Suche nach ihrer Identität getrieben, reist Laila später nach Boston weiter, wo sie als Sängerin arbeitet. Schließlich kehrt sie nach Marokko zurück, um die Wurzeln ihrer Vorfahren zu suchen.
Die Formulierung des Klappentextes, die Le Clézios Roman als "bewegende und aktuelle Geschichte Lailas, einer illegalen Einwanderin" ankündigt, lässt die Vermutung zu, es könne sich um die klischeebeladene und oft erzählte Geschichte eines Emigrantenkindes handeln, das zunächst großes Leid erfahren muss, später aber sein Glück findet. Wer mit dieser Leseerwartung die Lektüre aufnimmt, wird eine Überraschung erleben.
Denn die Handlung nimmt oftmals faszinierende Wendungen. In jedem Moment, da man glaubt, Laila habe endlich ein Stück Glück für sich gefunden, passiert der nächste Vorfall, der sie zur Flucht zwingt - sofern sie sich nicht längst freiwillig entschieden hat, weiterzugehen. Ihre ständige Unruhe lässt sich auch dadurch begründen, dass Laila über lange Strecken hinweg von ihrer Angst beherrscht wird: Sie fürchtet sich vor dem Gefängnis, der Polizei aber auch vor sexuellen Übergriffen Erwachsener, denen sie mehrfach ausgesetzt wurde. Etliche Vorfälle bleiben jedoch im Dunkeln: So erfährt der Leser nicht, ob Laila tatsächlich von der reichen Französin, in deren Haushalt sie arbeitet, vergewaltigt wurde. Erfahren wird man lediglich Lailas Sichtweise der Dinge, da Le Clézio die gesamte Geschichte ausnahmslos aus der Perspektive Lailas erzählt. Dies wird auch in den Beschreibungen der Orte deutlich, die Laila im Verlauf ihrer Odyssee passiert. Der Leser wird nicht über die touristischen Sehenswürdigkeiten hin in den Ort geführt, sondern erlebt, wie Laila die Orte kennen lernt: In Nizza lebt sie in einem Flüchtlingsheim und treibt sich auf einer riesigen Müllkippe herum. Auch in Paris wird der Leser in die U-Bahnstationen und "dunklen" Quartiere geführt.
Hat man bei der Lektüre anfangs noch Hoffnung, Laila könne den Weg aus dem Elend schaffen, wird man sich dann jedoch des Eindrucks nicht erwehren können, sie schaffe nie den sozialen Aufstieg. An jedem Ort findet sie stets Freunde, die wie sie Emigranten oder Außenseiter sind, die sich außerhalb gesellschaftlicher Normen bewegen. Le Clézio hat einen Roman geschaffen, der einerseits sehr pessimistische Züge zeigt, andererseits seine Leser in eine Welt entführt, die seltsam fremd und gleichzeitig faszinierend erscheint. Der Wechsel zwischen Enttäuschung und Elend, die Laila erfahren muss mit den kurzen Momenten des Glücks machen den Reiz dieses Romans aus.
Bezug nehmend auf den Titel "Fisch aus Gold" stellt sich die Hauptfigur des Romans als kleiner Fisch heraus, der anderen - meist Betrügern und gewalttätigen Menschen - ins Netz geht du sich ebenso schnell wieder aus diesem Netzen herauszuwinden weiß. "Fisch aus Gold" lässt auch die Vermutung zu, Laila schwimme schnell und unermüdlich wie ein flinker Fisch durchs Leben.
Le Clézio nimmt in seinem Roman zwar Bezug auf die Migrantenbewegung, stellt diese jedoch nicht in das Zentrum seiner Handlung. Man könnte vermuten, mit einem solchen Roman will der Autor auf die häufig schlechten Bedingungen hinweisen, die Emigranten in den westlichen Ländern vorfinden. Einen Eindruck der Schwierigkeiten bekommt man, wenn es um Arbeitssuche geht. Jedoch erschaffen sich die Charaktere in den unterirdischen Gängen von Paris eine Gegenwelt, in der sie sich mit rauschartigen Trommelkonzerten und Klängen aus ihrer Heimat trösten.
Mit "Fisch aus Gold" ist dem Autor ein Roman gelungen, der es schafft, den Leser gleichsam in pessimistische Stimmung verfallen zu lassen, jedoch auch in einen Sog gerissen wird, der es ihm unmöglich macht, sich der Handlung um Lailas Suche nach ihrer Identität zu entziehen.
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