Das archivierte Ich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegenstand dieser Untersuchung, die aus einer literaturwissenschaftlichen Habilitationsschrift der Marburger Universität erwachsen ist, sind Ego-Dokumente besonderer Art: 177 "Alte und Neue Schreibkalender", geführt zwischen 1624 und 1790 in der Familie der Landgrafen von Hessen-Darmstadt. Der Bestand bietet in seiner Geschlossenheit einen vermutlich einzigartigen Glücksfall für die Forschung. Schon die Überlieferung der "Schreibkalender" ist bemerkenswert. Die Bände wurden von den Benutzern noch zu Lebzeiten sorgfältig konserviert. Nach dem Tod wurden sie mit der Hinterlassenschaft im fürstlichen Archiv hinterlegt. Außergewöhnlich ist weiter, daß die Praxis von Generation zu Generation weitergegeben wurde, dies vor allem auch bei den Fürstinnen, die nach Darmstadt verheiratet wurden. Erhalten haben sich diese Aufzeichnungen von insgesamt dreizehn Mitgliedern der Familie, sechs Frauen und sieben Männern. Ihre Schreibkalender stiften eine Tradition, die so etwas wie ein Markenzeichen der Darmstädter Dynastie wurde.

Bedeutung und Stellenwert der Schreibkalender für Benutzer und Besitzer werden am Beispiel dieser Darmstädter Überlieferung erstmals kritisch unter die Lupe genommen. Die Studie schildert den Aufstieg des Schreibkalenders zum zeitgenössischen Massenmedium und beschreibt Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge in den verschiedenen Ständen der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund erschließt sie dann exemplarisch die in Darmstadt überlieferten Kalender-Aufzeichnungen von drei fürstlichen Ehepaaren aus dem 17. bzw. 18. Jahrhundert: Sophie Eleonora (1609-1671) und Georg II. von Hessen-Darmstadt (1605-1661), Ludwig VI (1630-1678) und Elisabeth Dorothea (1640-1709), der pedantisch registrierende "Soldaten-Landgraf" Ludwig IX. (1719-1790) und seine literarisch ambitionierte Frau Karoline, die sogen. "Große Landgräfin" (1721-1774).

Die Aufzeichnungen werden eingehend analysiert, die Entwicklung in ihrer langen Dauer nachgezeichnet und ihre Merkmale als eigenständige Textsorte herausgearbeitet. Die Schreibkalender werden als Schwellengattung kenntlich. Sie üben in das autobiographische Schreiben ein und stehen damit am Übergang zur Moderne. Das Spannungsfeld von dynastischer Tradition und autobiographischer Reflektion, das die Kalender-Eintragungen dokumentieren, wird anhand von Zeugnissen aus dem Lebenszusammenhang der Schreiberinnen und Schreiber weiter erschlossen. Diese geben Einblicke in die Frömmigkeit der Landgräfinnen und Landgrafen, die Festlichkeiten, die sie ausrichten, die Reisen, die sie unternehmen, die Testamente, Verträge und Anordnungen, mit denen man die politische Position der Landgrafschaft zu festigen sucht. Erst im Bezug zur Welt des Hofes und den hier gängigen Praktiken höfischer Repräsentation - von der Festkultur bis zu den unterschiedlichen Formen der Schriftlichkeit - lassen sich die Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge der Schreibkalender sowie die Wandlungen, die sie im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts durchlaufen, angemessen bestimmen und werten.

Über alle Wandlungsprozesse hinweg frappiert vor allem eins: Die fürstlichen Schreiber und Schreiberinnen halten durchweg am Schreibkalender als Datenträger für ihre Aufzeichnungen fest. Das derart "archivierte Ich" markiert gleichsam immer von neuem die unauflösbare Spannung zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen dem, was über das eigene Leben und die eigene Identität für die Nachwelt überliefert werden soll, und dem, was die einzelnen wirklich bewegt.

H. M.

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Titelbild

Helga Meise: Das archivierte Ich. Die Schreibkalender der Landgrafen und Landgräfinnen von Hessen-Darmstadt 1624-1790.
Verlag der Hessischen Historischen Kommission, Darmstadt 2002.
644 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3884430432

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