Etikettenschwindel
Frigga Haug hat kein historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus herausgegeben
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Dieses Wörterbuch versammelt die für praktizierende Feministinnen in Wissenschaft und Politik relevanten Einträge aus den ersten sechs (von 15 geplanten) Bänden des großen "Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM)", lautet der erste Satz in einem Lexikon, das als "Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus" firmiert und dessen erster Band nun von Frigga Haug herausgegeben wurde. Man möchte das Buch nun sogleich wieder schließen und zur Seite legen. Nicht etwa, weil Einträge eines Wörterbuchs des Marxismus per se uninteressant wären, sondern weil Feminismus kein Teilgebiet des Marxismus ist und sich somit ein Wörterbuch des Feminismus - zumal ein historisch-kritisches - nicht in Auszügen aus einem Wörterbuch des Marxismus erschöpfen kann.
Kommt man seiner Pflicht als Rezensent nach und befasst sich dennoch näher mit dem Band, so sieht man seine schlimmsten Befürchtung bald bestätigt. Zahlreiche für die aktuelle Feminismusdebatte relevante Begriffe fehlen, darunter so zentrale wie Dekonstruktion, Biologismus, Essentialismus, Gentechnologie oder Ethnizität. Dabei finden sich im historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus zu dreien von ihnen (Biologismus, Ethnizität und Gentechnologie) durchaus Einträge. Aber offenbar scheinen der Herausgeberin diese Begriffe für Feministinnen irrelevant oder zumindest die diesbezüglichen Einträge im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus für Feministinnen uninteressant zu sein.
Doch nicht nur aktuelle, auch historisch relevante Begrifflichkeiten wie etwa "Frauenstimmrecht" fehlen im vorliegende Wörterbuch. Gleiches gilt für so grundlegende Begriffe wie "Frau". Nun könnte man naiv einwenden, was eine Frau ist, sei doch bekannt und darum ein entsprechender Eintrag überflüssig. Angesichts dessen, dass der nicht minder geläufige Begriff "Hausfrau" sehr wohl eines Eintrages für würdig befunden wurde, wäre das allerdings eine überraschende Argumentation, und dies umso mehr, als Frigga Haug, die Autorin des Artikels, dessen Aufnahme mit "Hegels Diktum" begründet, "dass das, was allgemein bekannt ist, deshalb noch lange nicht erkannt ist". Wo Hegel das gesagt hat, teilt sie allerdings nicht mit. Doch meint sie offenbar eine Stelle in Hegels "Vorrede" zur "Phänomenologie des Geistes": "Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt." Eine interpretierbare Stelle, wobei Haug den Benutzer des Wörterbuches, ihre Interpretation unterschiebt, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, selbst nachzuschlagen, was Hegel denn genau gesagt hat.
Auch die - zumindest für den Feminismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts - ebenfalls grundlegenden, doch anders als "Frau" nicht alltagssprachlich gebräuchlichen Begriffe "gender" und "Gender Studies" sucht man vergeblich. Letztere werden immerhin in dem von Mary A. Armstrong verfassten Lemma "Frauenstudien" kurz erwähnt und man erfährt, dass "die Universität von Aalborg in Dänemark ihr Programm Gender Studies nennt", dass diese Bezeichnung "anderen" jedoch "zu einseitig" sei. Sodann darf man erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass sich "weltweit" "die Bezeichnung Women's Studies (oder ein entsprechendes nationalstaatliches Äquivalent wie F[rauenstudien]) durchgesetzt" habe. Ebenfalls vergeblich sucht man in dem ausweislich des Titelblattes die Lemmata "Abtreibung" bis "Hexe" umfassenden Band den Eintrag "Abtreibung". Tatsächlich setzt er erst mit dem Artikel "Abtreibungskampagnen" ein.
Doch kommen wir zu den aufgenommenen Lemmata. Nicht nur in dem, was fehlt, auch in dem, was aufgenommen wurde, wird die marxistisch-sozialistische Ausrichtung und Reduktion des Wörterbuches deutlich. Von den insgesamt 53 Lemmata gelten 14 den Begriffen Arbeit, Arbeitsteilung, Eigenarbeit, ehrenamtliche Arbeit, Erinnerungsarbeit, Familienarbeit/Hausarbeit, Feminisierung der Arbeit, Frauenarbeit, Frauenarbeitspolitik, Gesamtarbeit, gesellschaftlich notwendige Arbeit/Arbeitszeit, Hausarbeitsdebatte, häusliche Produktionsweise und schließlich Heimarbeit/Telearbeit.
Eine vielleicht noch deutlichere Sprache spricht der Anhang, dessen Bibliographie "Ausgaben und Werktitel" und "Sonstige Ausgaben und Werktitel" getrennt auflistet. Zwar wird ein Unterscheidungskriterium nicht genannt, doch offenbar sind in der ersten Rubrik die 'Marxistischen Klassiker' aufgelistet, und zwar nicht etwa alphabetisch, sondern nach dem Grad ihrer Kanonisierung (oder ist es die theoretische Vorliebe der Herausgeberin?): Karl Marx und Friedrich Engels, Wladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci. In der zweiten Rubrik finden sich (nun alphabetisiert und im Unterschied zu den Autoren der ersten mit abgekürzten Vornamen) unter anderem Th. Adorno, L. Althusser, G. Dimitroff, G. Lukács, Mao Zedong, J. Stalin, L. D. Trotzki. Autorinnen, wie Simone de Beauvoir, Judith Butler, Hedwig Dohm, Julia Kristeva, Helene Lange oder Monique Wittig fehlen hingegen.
Das erstaunt nicht weiter, wenn man sich etwa das Lemma "Frauenemanzipation" ansieht, dessen Verfasserin Gisela Heinrich ausschließlich auf sozialistische Autoren bezug nimmt, insbesondere natürlich auf Marx und Engels, sodann auf August Bebel, Rosa Luxemburg und einige andere. So etwas mag für ein Wörterbuch des Marxismus zwar hingehen, in einem Wörterbuch zum Feminismus ist es jedoch unzumutbar. Magda Müller und Barbara Wilhelmi - auch das sei erwähnt - kommen hingegen in ihrem Artikel zum Begriff Göttin ganz ohne Rekurs auf sozialistische Eminenzen aus. Dennoch wird in fast jedem der Lemmata deutlich, dass es einem Wörterbuch entnommen ist, das den Marxismus nicht nur zum Objekt hat, sondern selbst marxistisch orientiert ist.
Werfen wir einen Blick in den zentralen Eintrag des Wörterbuches: Feminismus. Feminismus, erklärt Rosemarie Hennessy, die ihn zusammen mit Sigrid Metz-Gockel verfasst hat, zunächst ganz allgemein, lasse sich als "Ensemble von Debatten, kritischen Erkenntnissen, sozialen Kämpfen und emanzipatorischen Bewegungen fassen, das die patriarchalen Geschlechterverhältnisse begreifen und verändern will", macht sich aber im folgenden bei der Erklärung von Entstehung und Entwicklung des Feminismus einer Reihe von ökonomistischen Verkürzungen schuldig. Dass er "als Theorie und als soziale Bewegung aufgrund von Veränderungen in der Produktion möglich geworden" sei, mag ja hingehen, sagt aber ziemlich wenig. Genauer und somit problematischer ist die Behauptung, als "politischer Diskurs" sei er das "Produkt der aus dem Übergang zum Industriekapitalismus resultierenden Krisen und deren Bewältigung" (Herv. R. L.) und seine Geschichte sei in "der Folgezeit von den Widersprüchen und strukturellen Anpassungen bestimmt" gewesen, "die den Kapitalismus in seinen späteren Phasen begleiten". Konkret bedeute dies, dass man den "rapiden Aufschwung" des Feminismus' in den "überindustrialisierten Zentren" nach 1968 nicht von den "Verschiebungen in der globalen Produktion trennen" könne, welche "die Veränderungen in der Organisation von Frauenarbeit hervorbrachten". Die beiden Autorinnen zeigen sich derart auf den ökonomischen 'Unterbau' fixiert, dass Metz-Gockel im zweiten Teil des Lemma ihrer Verwunderung darüber Ausdruck verleiht, dass die Frauenbewegung und der Feminismus seit den 80er Jahren "verschwinden", "obwohl sich die Lebensbedingungen für viele Frauen durch steigende Arbeitslosigkeit und die Verallgemeinerung der kapitalistischen Marktgellschaft krass verschlechtert haben". Einen Erklärungsversuch hierfür unternimmt sie nicht.
Den im Lemma Feminismus virulenten Ökonomismus teilt die Herausgeberin des Bandes allerdings nicht, bemerkt sie doch in dem Artikel zu "Frauenbewegung" zu recht, es sei "kurzschlüssig, das Auftauchen der F[rauenbewegung] direkt mit der ökonomischen und politischen Lage zusammenzubringen". Zwar befindet auch sie sich im Erklärungsnotstand ("Ebenso ungewiss wie der Entstehungszusammenhang von F[rauenbewegung] ist, was zu ihrem Niedergang als Massenbewegung führte") und belässt es ebenso wie Eva Nikell im gleichen Eintrag oft bei vagen und nichtssagenden Informationen ("Frauenunterdrückung scheint es seit Menschengedenken gegeben zu haben." Nikell, "In der Geschichte waren es häufig 'starke' und mutige Frauen, die als Einzelne für ihre Rechte fochten." Nikell, "In der F[rauenbewegung] folgte [in und nach den 70er Jahren] eine zunehmende Zerlegung. Die ganze Welt bot unterschiedliche Aspekte, die von einzelnen Frauengruppen zu bearbeiten waren"; Haug), doch sind ihre Ausführungen verglichen mit denjenigen im Lemma "Feminismus" fast schon erhellend. Über theoretische Entwicklungen und Kontroversen zwischen feministischen Theoretikerinnen oder innerhalb der Frauenbewegung wird man jedoch in beiden Einträgen meist nur oberflächlich oder gar unzutreffend informiert. So führt Metz-Gockel im Lemma "Feminismus" Judith Butler als Vertreterin der Theorie des Geschlechts als "soziale[r] Konstruktion" an. Die Besonderheit von Butlers Theorie ist jedoch nicht die soziale sondern die diskursive Konstruktion von Geschlecht. Aber für die Autorin sind solche Unterschiede vermutlich belanglos, stellt sie doch fest, dass die "wissenschaftsinterne[n] Debatten" etwa die Kontroverse um Geschlecht als soziale Strukturkategorie oder als soziale Konstruktion "vom politischen Tagesgeschäft weit entfernt sind, auch wenn sie ihre Selbsteinschätzung nach von erheblicher politischer Bedeutung und Brisanz sind".
Nicht viel informativer sind die Ausführungen zur ersten Frauenbewegung im Eintrag von Nikell und Haug: "Mit der Entstehung der Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende wurde die F[rauenbewegung] größer, spaltete sich aber zugleich in einen bürgerlich-liberalen und einen sozialistischen Flügel". Die geläufige Dreiteilung in einen sozialistischen, einen bürgerlichen und einen radikalen Flügel wird nicht übernommen, ja nicht einmal erwähnt. Ebenso wenig wird auf andere etwa religiös motivierte Zusammenschlüsse hingewiesen. Das schlichte Schema scheint zu lauten: was nicht sozialistisch ist, ist "bürgerlich-liberal".
Auch der ebenfalls von Frigga Haug verfasste Eintrag zum Begriff Geschlechterverhältnisse leidet an einem blinden Fleck, stellt er doch eingangs fest, der Begriff setze voraus, "was Resultat der zu untersuchende[n] Verhältnisse ist: die Existenz von 'Geschlechtern' im Sinne der je historisch vorfindlichen Männer und Frauen", womit er theoretische Ansätze, welche die Zweigeschlechtlichkeit hinterfragen, von vorneherein ausblendet, um sich im folgenden ganz auf marxistische - oder zumindest sozialistische - Theorien der Geschlechterverhältnisse zu konzentrieren. Immerhin ist auch ihm Judith Butler eine kurze Erwähnung wert, deren Ausführungen Haug als "Grundlage produktiver Konflikte" für die "Linke" lobt.
Interesse könnte der von Jutta Meyer-Siebert verfasste Eintrag "Frauenformen" wecken, handelt es sich doch um einen Begriff, der nur wenigen geläufig sein dürfte und über dessen Bedeutung man gerne näheres wissen möchte. Diese Wissbegierde wird schon in den ersten Zeilen befriedigt. Es handelt sich um den "Titelbegriff", unter dem Frigga Haug "mit wechselnden Mitforscherinnen seit Beginn der 1980er Jahre Ergebnisse von Forschungsprojekten zu weiblicher Vergesellschaftung" veröffentlicht. Man weiß nun eigentlich genug, doch wird das Projekt der Herausgeberin noch in aller Breite vorgestellt. Forschungsprojekte und Reihen anderer Feministinnen werden hingegen nicht durch eigene Einträge gewürdigt.
Angesichts der Vielzahl der Einwände muss darauf hingewiesen werden, dass den Autoren etliche der Mängel ihrer Lemmata nur bedingt anzulasten sind, haben sie ihre Texte doch für ein Wörterbuch des Marxismus verfasst und so manches, was dort seine Berechtigung hat, ist in einem Wörterbuch des Feminismus verfehlt.
Dennoch: wirklich erhellend sind nur einige wenige Einträge. Unter ihnen sind insbesondere "Geschlecht" (Donna Haraway und Andrea Maihofer, die im Anhang in Petra umgetauft wird) sowie "Heteronormativität" von Peter Wagenknecht zu nennen. Aber zwei oder drei noch so bemerkenswerte Artikel sind einfach zu wenig. Darum und mehr noch, weil man es nicht anders denn als Etikettenschwindel bezeichnen kann, wenn ein Nachschlagewerk als Wörterbuch des Feminismus auftritt, aber nichts weiter bietet als Auszüge eines Wörterbuches des Marxismus, sei hier nachdrücklich das "Metzler Lexikon Gender Studies / Geschlechterforschung" (vgl. literaturkritik.de 3/2003) zur Konsultation empfohlen, mit dem feministische Wissenschaftler und gender-theoretisch orientierte Forschern ebenso wie auch Aktivistinnen der Frauenbewegung allemal besser bedient sind.
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