Der kategorische Imperativ des Darwinismus

Ellen Keys Erziehungskonzept

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hedwig Dohm, die große alte Dame der Ersten Frauenbewegung, entdeckte in Ellen Keys 1902 erstmals in deutscher Übersetzung erschienenem Buch "Das Jahrhundert des Kindes" "einige Ideen", die ihr "aus der Seele gesprochen" waren. Allerdings gestand sie, dass ihr nur ein "kurze[r] Auszug" aus der Schrift bekannt ist. Es muss ein wirklich sehr kurzer gewesen sein, sonst hätte sie an dem Buch sicher ebenso wenig Gefallen gefunden wie an Keys vier Jahre zuvor erschienener Broschüre "Missbrauchte Frauenkraft", die Dohm mit ihrer bekannten Scharfzüngigkeit kritisierte und die ihr immerhin Anlass genug war, Key den Antifeministinnen zuzurechnen.

Der Belz Verlag hat "Das Jahrhundert des Kindes", eine Studiensammlung, die als Hauptwerk der schwedischen Pädagogin gilt, seit Anfang der 90er Jahre in mehreren Auflagen neu aufgelegt. Zwar ruft die Autorin das Jahrhundert des Kindes aus, dessen Wohl ihr zentrales Anliegen zu sein scheint - und noch heute wird das Buch von einigen wohlmeinende Rezipienten entsprechend gelesen -, doch letzten Endes ist das Kind für Key, die ein darwinistisches und biologistisches Entwicklungs- und Erziehungskonzept entwirft nur ein Mittel zum Zweck der "Veredelung der Rasse". So sollen die Naturwissenschaften die Grundlagen nicht nur der Pädagogik sondern des gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt bilden. Insbesondere müsse der Mensch "im Geiste" der "Gesetze der natürlichen Auslese" handeln. Dies bedeute zunächst einmal, zu verhindern, dass sich "der Verbrechertypus" fortpflanzen kann, und sodann dafür Sorge zu tragen, "daß die mit erblichen physischen und psychischen Krankheiten Belasteten diese nicht einer Nachkommenschaft vererben". Zur Begründung schickt sie einen "kategorischen Imperativ der Nerven und des Blutes" ins Feld.

Ist das Kind letztlich Mittel zum Zweck der 'Rassenveredlung', so ist die Frau Mittel zweiten Grades, nämlich Mittel zu dem Mittel Kind. Nicht nur Mütter, auch Frauen, "die sich die Mutterschaft als Möglichkeit denk[en]", haben ganz im Dienst ihres möglichen Nachwuchses zu stehen und ihr Recht auf "individuelle Freiheit" aufzugeben. Es sei nicht weniger als ein "Verbrechen", wenn "das junge Weib", und hier ist gar nicht mehr davon die Rede, ob es künftig Mutter sein will oder nicht, "seine Person freiwillig mißhandelt, sei es durch Übertreibung im Studieren oder im Sport, durch Schnüren oder Näscherei von Süßigkeiten und all den tausend anderen Unverbesserlichkeiten mit denen diese oft so einnehmenden Törinnen sich an der Vorsehung der Natur versündigen". Solchen "individuellen Freiheiten", mit denen Frauen gegen die Natur freveln, stellt Key "die wirkliche Freiheit der Frau" entgegen, die in nichts anderem besteht als darin, "ihrer Natur folgen [zu] können", also Kinder großziehen und der 'Rassenveredlung' dienen zu können.

All dem kann man heute wohl schwerlich zustimmen. Und Hedwig Dohm hätte es vor 100 Jahren ganz sicher auch nicht getan.

Titelbild

Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. 5. Aufl.
Vorwort von Sabine Andresen und Meike Baader.
Autorisierte Übertragung aus dem Schwedischen von Françis Maro.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2000.
266 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3407220286

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