Der Hereroaufstand

Gerhard Seyfried über die begrenzten Mittel, historische Wahrhaftigkeit im Roman zu erreichen

Von Robert HabeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Habeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht die Wannsee-Konferenz mit ihrem Beschluss der vollständigen Vernichtung der Juden markiert das erste Datum, bei dem die Grenze zwischen systematischem Mord und Genozid im zwanzigsten Jahrhundert überschritten wurde, sondern der Beschluss des Oberkommandierenden der deutschen Schutztruppen in Südwest (heute Namibia), Lothar von Trotha, den Stamm der Hereros vollständig zu vernichten. Diese hatten 1904 den Aufstand gegen die Deutschen gewagt, nachdem sie durch den Tauschhandel und das ihnen völlig unverständliche Kreditwesen - also das Anschreiben und nachträgliche Eintreiben von dann hoch verzinsten Schulden - um ihre Weidegründe und Viehbestände gekommen waren.

In den letzten Jahrzehnten geriet dieser Krieg in Vergessenheit. Aber in den zehner, zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts war er Stoff für eine Vielzahl von Romanen und Erfahrungsschilderungen, die so kuriose Titel wie "Nimm dich in acht, Herero!" (von Friedrich Meister), "Heim Neuland" (Friede H. Krazes), "Reiterbriefe aus Südwest" (Adda von Liliencron) oder "Peter Moors Fahrt nach Südwest" (Gustav Frenssen) hatten und - vor allen Dingen letztgenanntes Buch - Millionenauflagen im In- und Ausland erzielten. Dagegen nimmt sich Gerhard Seyfrieds Titel "Herero" vergleichsweise nüchtern aus. Auf über 600 Seiten schildert der Autor die Geschichte des Kartographen Carl Ettmann, der, kaum in Swakopmund an Land gegangen, eingezogen und an die Front gegen die Hereros geschickt wird. Man erfährt in Seyfrieds Buch allerlei über die Vegetation Namibias, noch mehr über die Waffentechnik und auch ein wenig über die Stimmung und die Selbstwahrnehmung der deutschen Auswanderer.

Anders aber als bei der (ethnisch nicht minder grausamen) Inbesitznahme Amerikas bildet sich in Deutsch Südwest keine eigene Pioniermentalität heraus, was wohl daran liegt, dass die sogenannte Kolonialisation Namibias nie eine Eigendynamik hatte, sondern von Berlin gesteuert wurde und im Grunde rein militärisch ausgerichtet war. Dem Plan nach sollte die Auswanderung nach Amerika und der "Verlust deutscher Volkskraft" (Hans Grimm) gestoppt werden und Namibia quasi als Reservoir und Zuchtgebiet deutschen Nachwuchses dienen. Faktisch blieben nur ehemalige Schutztruppler im Land und "farmten". Indem die Mentalität der Farmer aber immer militärisch geprägt blieb und die Mentalität der Soldaten durch die offiziellen kaiserlichen Statements geprägt wurde, ist Seyfrieds Wiedergabe der - vielleicht sogar historisch einigermaßen stimmigen - Denkweise seiner Charaktere sehr dicht an den völkischen Romanen aus den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts. Dies geschieht vermutlich nicht in böser Absicht (die linke Biographie des Autors macht ihn einem versteckten Kolonialdenken unverdächtig), sondern aus literarischer Unbedarftheit. Geschichte so zu schildern, wie sie eigentlich gewesen ist, ist eine Fiktion, und der historische Roman ist qua Anlage tendenziell affirmativ, wenn er sich auf die Sicht und das Wissen seiner Zeit zurückzieht. Dass die Sicht auf historische Ereignisse nie neutral sein kann und - zumal im Roman - immer auch fiktiv und subjektiv ist, das hätte Seyfried erkennen können und wissen müssen. An der Collage-Form von Uwe Timms "Morenga" aus dem Jahr 1978 oder an den drastischen Südwest-Passagen von Thomas Pynchons "V." hätte Seyfried studieren können, wie man geschichtliche Ereignisse aus ihrer Einbettung in einen Kontext löst, um mit dem sich auftuenden Interpretationsraum das Bewusstsein für kritische Distanz zu schaffen. Historizität entfaltet ihre Bedeutung erst im Rückgriff aus der Gegenwart.

Seyfried wählt den vermeintlich authentischen, tatsächlich aber naiveren Weg. Seine Schilderungen sind sehr dicht, mitunter wörtlich an den Schinken der Kolonialautoren, was zeigt (wie auch die Literaturliste am Ende), dass er sie gelesen, nicht aber, dass er sie in eine erzählerische Form überführt hat. Um auch der Sicht der Schwarzen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, unterbricht er Ettmanns Bericht immer wieder durch Passagen aus der Sicht des Herero Moses'. Doch die Schilderung erfolgt nicht mit dem Blick des Weißen (was wohl so sein muss), sondern bestätigt exakt die Erwartungshaltung, mit der man auf Safari geht, um eine seltene Spezies zu besichtigen. Seyfrieds Versuch, den schwarzen Blick zu kopieren, reproduziert das Klischee des Naturmenschen, also den einfachen Gegensatz von Zivilisation und Wildnis. Ein Buch wie "Die schweigenden Feuer" von Giselher W. Hoffmann (1999), das in Romanform die Geschichte des Hererostammes aus dessen Sicht erzählt, zeigt zwar, wie schwierig es in diesem Fall ist, sich vom ethnographischen Bericht zu lösen, doch auch, wie vorsichtig man sein muss, nicht nur Vorurteile zu wiederholen. Vermutlich führt der einzige Weg für europäische Schreiber, die Leiderfahrung und die kulturelle Distanz anderer Völker zu erfassen, nur über das Eingeständnis der Begrenztheit der Mittel. Statt auf Authentizität zu zielen, hätte Seyfried sich auf eine parallele Handlung verlegen sollen, die in Analogie zu seiner Ettmann-Geschichte eine eigene Logik entfaltet. Diese Logik wäre vermutlich nicht die, die die Hereros gehabt hätten, aber sie könnte wenigstens deutlich machen, dass es zu bestimmten Ereignissen verschiedene Sichten gegeben hat. Stattdessen bleibt Seyfried so nah wie möglich an den Quellen. Einzig bei der Schlacht am Waterberg und dem folgenden Vernichtungsbefehl von Trothas weicht er von der üblichen Darstellung in den einschlägigen Büchern ab. Die Pointe von Seyfrieds Roman ist, dass schon die Schlacht ein militärisches Fiasko des deutschen Generalstabs war, der die Vernichtung wollte und es durch taktische Fehler zuließ, dass ein Volk von 80.000 Männern, Kindern, Frauen und Vieh, dem Kessel der auf 15.000 Soldaten aufgestockten deutschen Armee in nur einem Nachtmarsch entkam. Diese Flucht dann als kalkulierte und vorhergesehene umzudeuten, ist nach Seyfried kein Masterplan gewesen, sondern eine Notlüge und die Abriegelung der Wüste Omaheke, in die die Hereros auswichen, nur eine Notlösung.

Man wünscht von Trotha alles Schlechte und wenn ein Autor schreibt, dass dieser Mann noch nicht einmal in der Lage war, mit überlegener Waffentechnik, Funk und Heliographie, einen militärischen Plan auch umzusetzen, so könnte man sich darüber zufrieden die Hände reiben. Indes verspielt Seyfried durch die undurchdachte Anlage seines Romans noch diese historische Spitze. So richtig es auch sein mag, so falsch ist es nach der fragwürdigen Darstellung vorgeblich authentischer Zeiterfahrung auch noch zu lesen, dass die Deutschen die Hereros im Grunde gar nicht umbringen wollten. Vielleicht wäre "Herero" eine bessere akademische Arbeit geworden. Als Roman hätte er die Schwere der Schuld der Deutschen herausstellen müssen. Denn Scheusale werden in der Literatur nicht durch Relativität bekämpft, sondern damit einzig und allein der Effekt von Zorn und Mitleid von den handelnden Personen auf die Art ihrer Darstellung gelenkt.

Titelbild

Gerhard Seyfried: Herero. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
603 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 382180873X

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