Alles auf dem Rasen

Dirk Wittenborns Roman "Unter Wilden"

Von Robert HabeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Habeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Psychofuzzi", "Arschloch", "Sackratten", "Turbotitten", "Einen blasen", "Ficken", "Arschficken", "Pot" (vorzugsweise selbstangebauter, der mit Pestiziden getränkt ist), "Koks", "Methaqualon" - wer dieses Vokabular weder für salon- noch für literaturfähig hält, sollte Dirk Wittenborns Buch nicht lesen. Wer aber akzeptiert, dass Redensarten über vorzeitige Orgasmen bereits Einzug in die Weihehallen höchster deutscher Volksvertreter gehalten haben, kann sich mit dem Rezensenten freuen und - um nochmals die politische Kaste zu zitieren - ausrufen: "Endlich ein Buch, das den Arsch in der Hose hat!". Oder eben auch nicht. Denn neben Drogen geht es vor allen Dingen darum, dass der fünfzehnjährige Finn seine sexuelle Unschuld verlieren will. "'Lust auf ein bisschen Fummeln?' Sie bot sich mir kichernd an. Nichts wäre mir im Moment lieber gewesen. Sie zog sich das knallenge Oberteil runter, schloss die Augen, öffnete die Lippen und wartete darauf, dass ich sie küsste. Hätte ich nicht gezögert, wäre ich nie und nimmer von Jilly und ihren inzwischen nackten, aller Schwerkraft strotzenden Brüsten abgelenkt worden." Aber Finn wird gestört durch ein Mitglied jener Familie, in dessen surreale Welt sein Autor Wittenborn ihn und seine Mutter versetzt hat.

Wittenborns "Frühlingserwachen" spielt in den späten siebziger Jahren in jenen Zirkeln der amerikanischen Superreichen, die seit Generationen Wirtschaftsbosse, Präsidenten und Richter stellen, deren Familiennamen identisch sind mit denen amerikanischer Markenprodukte. Trocken kommentiert ein deutscher Graf: "Das ist wirklich schlau von Euch - in Amerika bringt ihr ihnen bei, dass jeder reich werden kann, damit sie sich selbst hassen, wenn sie die reichen hassen. Das lähmt sie. Sie können nur noch essen." In dieser pervertierten Welt des amerikanischen Mythos trifft Finn auf Maya und ihren Bruder Bryce. In Maya verliebt er sich und endlich, nach vielen Hindernissen, erfüllt sich auch mit ihr (und auch für sie) endlich der Einstieg in die sexuelle Vollwertigkeit. Während die Beziehung zu Maya immer wieder versucht, durch die Oberfläche der Leichtigkeit, des schönen Scheins, der flotten Sprüche und schnellen Nummern zu stoßen und sich Wahrhaftigkeit der Gefühle zu erobern, ist das Verhältnis zu Bryce völlig durch die Absorption jener Kräfte bestimmt, die die Kaste der Superreichen kennzeichnet. Probleme werden einfach weggekauft, und im Grunde geht es darum, auszuprobieren, die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten immer weiter zu verschieben. Diese ethische Bipolarität wird im Verlauf des Romans zu einer feinen literarischen Doppelstrategie. 150 Seiten liest man mit Vergnügen (vorausgesetzt, man akzeptiert den Jugend-Slang) und mit so manch verdrängter Erinnerung an eigenes Fehlverhalten. Wenn man erstmals denkt, dass diese 400 Seiten Bravo-Probleme (wenngleich auf höherem Niveau) doch wohl ein wenig lang sind, kommt es zu einem jähen Ausbruch von Gewalt: Finn wird auf dem Weg zu Maya vergewaltigt. Zunächst denkt man, dass dies innerhalb der sexuellen Erfahrungen, die Finn macht, zwar eine perverse ist, begreift aber noch nicht, dass mit diesem Verbrechen das Buch seine Strategie gewechselt hat und zum Thriller geworden ist. Alle Informationen, die man zuvor als Charakterbeschreibungen der reichen Schnösel gelesen (und überlesen) hat, werden nun zu Teilen eines Krimi-Puzzels. Als Krimi ist "Unter Wilden" zwar reichlich durchschaubar, doch begreift man anfangs gar nicht, dass es ein Krimi ist.

Parallel zu der doppelten Erzählstrategie ist auch die Sprache des Romans gewählt. Wittenborn kokettiert mit dem Jugendslang, die Sätze sind kurz, die wörtliche Rede dominant und rasant, viele Szenen sind auf den Witz oder eine Pointe zugeschrieben, gleichwohl ist das Buch nicht authentisch pubertär (was es wohl unerträglich gemacht hätte), sondern allein dem Effekt der Jugendlichkeit verhaftet. Finn benutzt für einen Fünfzehnjährigen ganz untypische Vergleiche (Hostie, Satyr, Exzentriker) und reflektiert seine eigene Situation ein wenig zu distanziert ("Es ist schon irre, wenn du sechzehn bist und so gerne wieder jung wärst"). Authentizität der Erfahrung steht weder inhaltlich noch stilistisch auf dem Programm - und deshalb erfüllt das Buch seine Ansprüche hermeneutisch gesehen in geradezu klassischer Weise. Vor Drogen wird nicht gewarnt, nur dass die Menschen, die sie benutzen, eben "Ärsche" sind, der Blick auf Frauen ist sexistisch, aber die Männer, die ihn werfen, sind deutlich als Opfer ihres psychopathischen Ennui gekennzeichnet, Gewalt wird ausgeübt und Gerechtigkeit wird aufgekauft, bis schließlich Liebesleben und Thriller zu einer emotionalen Einheit finden - und Finn damit sich selbst, sofern man davon überhaupt reden kann.

Titelbild

Dirk Wittenborn: Unter Wilden.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans Wolf.
DuMont Buchverlag, Köln 2003.
414 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3832178228

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