Das stumme Reich der Erinnerung

Michael Krügers Gedichtband "Kurz vor dem Gewitter"

Von Anna EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der ganze Band ein Herbst, ein Sterben. Und das mit zunehmender Offensichtlichkeit: "Vor dem Anfang ist das Ende in Sicht". Was bleibt, ist Verlassenheit. Das lyrische Ich zollt den Toten Ehrerbietung und Würdigung in zahlreichen Nekrologen und dazu bedarf es der Erinnerung. Sie ist das zentrale Thema des Bandes und wird aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die Gedichte legen eine Stimmung frei, die zwischen Melancholie und Unbeschwertheit, Wehmut und Klarheit wechselt. Der Leser mag einen glatten, aggressionslosen und sogar energielosen Zustand erreichen, Krügers Sprache tut es nicht. Ein versteckter Zauber ziert die Zeilen. Und ein vornehmes Mit- und auch Selbstmitleid. Michael Krüger, 1943 geboren, lebt als Autor, Leiter des belletristischen Teils des Carl Hanser Verlages und Herausgeber der Zeitschrift "Akzente" in München. Auf seinen ersten Gedichtband "Reginalpoly" 1976 folgten Romane, Novellen, Satiren und weitere Gedichtbände.

"Meine Schuhe/ haben den Kieseln das Epos der Straße entlockt,/ dem Asphalt sein öliges Seufzen". Dieses Epos und die Seufzer hört man durch alle Gedichte, als bebende Klage, Ausdruck der Erinnerung. Dahinter steht die essentielle Frage nach dem Ankommen auf und der Abreise von der Erde: "Meine Abreise verschiebt sich täglich/ in ein länger werdendes Bleiben". Wie also sich einrichten? Zwar gibt es eine Brücke in diesem Kreislauf von Leben und Tod, "eine schmale Brücke, die das Dunkel/ mit dem Dunkel verbindet", aber "sie ist wie ein Schrei/ über der wortlosen Angst, nicht mehr". Angst vor dem Unvoraussehbaren, der Leere, dem endgültigen Auszug. Auch auf dieser Brücke also ist dem lyrischen Ich kaum Heimat möglich. Die Stille wird übermächtig an Erinnerungen, und die Sehnsucht nach Licht wächst. Die "exakte Bedeutung von Glück" wird noch nachgeschlagen, aber der Erinnerung, "dieser Heuchlerin", die nur tröstet und unser Unglück unerträglich macht, kann keine Absage erteilt werden. Sie erinnert weiter, an Trennungen, aber gibt auch Gelassenheit, weil sie alles ungefährlicher aussehen lässt, wenn wir den Blick zurückwenden: "Mit einer Welt im Rücken lebt es sich leichter". Dieser Widerspruch bleibt bestehen. Erinnerung ist Last und zugleich die "letzte Bastion", die Identität, aus der heraus alle Be-ziehungen des Lebens betrachtet werden. Krüger führt den Leser durch die Ambivalenz der Erinnerung ins "Universum des Schmerzes", wie Peter Handke sich ausgedrückt hat.

Scheu zeigt sich das Ich und skeptisch: "Es bleibt ein Rätsel,/ daß Menschen zusammenleben,/ ohne um Nachsicht zu bitten/ für diesen unhaltbaren Zustand". Mit einem jedenfalls war der Zustand nicht unhaltbar, gleich drei Gedichte handeln vom Großvater mit dem Glasauge, der dem Junge erzählte: "Wenn man es falsch herum/ einsetzt, kann man nach innen sehen,/ in den Kopf hinein, wo die Gedanken leben". Die Erlebnisse mit dem Kartoffelspezialisten-Opa, der auch nach der Enteignung noch an Gott glauben wollte, die Zeit in Armut und Glück lassen den "Mann mit dem Hasenherz" zurück: "Nicht mehr und nicht weniger". Das sind mehr als kleine Anekdoten, das ist lebhafte Vertraulichkeit, die leuchtet, auch raus aus dem Buch.

In den Widmungsgedichten an Antanas Gailius, Peter von Matt, Charles Simic, Hans Magnus E. und Wulf Segebrecht fordert das lyrische Ich Erinnerung. Es lobpreist, eröffnet Eigenarten, bewundert Standhaftigkeit und verehrt Selbsttreue, drückt Kritik und auch Distanz aus.

Diese Spielart findet sich auch im letzten Kapitel wieder, das hauptsächlich Nachrufe auf Genannte, Angedeutete und Unbekannte enthält. Das Andenken ist die einzige Möglichkeit, den Verstorbenen Anerkennung, ja Existenz überhaupt zu geben. Es ist die "Melodie des Scheiterns", die Trauer des lyrischen Ichs um vergessene, aus der Erinnerung gelöschte Größen: "Keiner Schule angehört,/ keine Schule gemacht,/ Immer geschrieben". In "Das elfte Gebot" kulminiert die Thematik der Vergänglichkeit: "Du sollst/ nicht sterben,/ bitte". Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, außer vielleicht, dass es Bücher gibt, "die sich uns kurz zeigen/ und wieder verlassen, als wäre nichts gewesen". Krügers "Kurz vor dem Gewitter" zählt sicherlich nicht dazu.

Titelbild

Michael Krüger: Kurz vor dem Gewitter. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
111 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3518414569

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