Weltschmerz und Seelenreinigung

Zu Vladimir Sorokins neuem Roman "Ljod. Das Eis"

Von Michaela WillekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michaela Willeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der in Russland immer wieder und gerade heute verstärkt zutage tretenden Ungleichzeitigkeit, Ungerechtigkeit und Überspanntheit hat der russische Schriftsteller Andrej Bitow kürzlich in einem Interview betont, in Russland sei das Absurde zuhause: "Wir sind auf der Welt, um Kafka wahr werden zu lassen." In der Tat findet sich wohl nicht zufällig gerade in Russland eine überaus reiche Tradition des Absurden und Grotesken: Man denke nur allein an die Erzählungen Nikolaj Gogols (seine Geschichten "Der Mantel" und "Die Nase"), an die Romane Dostojewskijs oder die derzeit neuentdeckte Kurzprosa Daniil Charms. Immer wieder werden hier die Grenzen des Denkens und die dunkelsten Winkel des Lebens ausgeleuchtet, um sich - nicht selten mit so ironischem wie sozialkritischem Unterton - über Gott und Welt Rechenschaft zu geben, dem so schönen wie schrecklichen Dasein auf den Grund zu gehen. Weltschmerz und Seelenreinigung, Nihilismus und eschatologisch gestimmte Utopie, Pathos und Pathologie durchziehen die Geschichte Russlands wie eine Konstante. Doch während für die Generation der Dichter und Denker des russischen "Silbernen Zeitalters" um 1900 der metaphysische Glanz der russischen Kultur seine Strahlkraft noch nicht gänzlich aufgebraucht hatte, sondern sich in Konfrontation mit dem Absurden zu einer Vielzahl kreativer Facetten auffächerte, scheint heute nur noch die pure Absurdität selbst sich zu behaupten. Die idealistische oder ironische Distanz zur kafkaesken Welt ist kaum mehr möglich, da diese inzwischen allgegenwärtig geworden ist.

Dass es auch derzeit ausgerechnet die Stimmen von Schriftstellern sind, die sich kritisch diagnostizierend über Russland äußern, dass es immer wieder die Literatur ist, die als Referenzpunkt und Darstellungsmittel gewählt wird, steht einmal mehr in der Tradition Russlands selbst. Schon seit Aleksander Puškin (1799-1837) ist die Literatur von zentraler Bedeutung für die russische Kultur: Sie war und ist nie nur ein Diskurs unter vielen, der auf ästhetische Weise unterhalten und belehren will, sie ist immer auch ein zentrales Medium der philosophischen und gesellschaftlichen Reflexion, der Erinnerung und des Blicks in die Zukunft. So hat schon vor Jahren Nadešda Mandelštam, die Gattin des großen russischen Dichters Ossip Mandelštam, in ihrer Autobiographie "Das Jahrhundert der Wölfe" betont: "Bei uns spielt die Dichtung eine besondere Rolle. Sie weckt die Menschen und formt ihr Bewusstsein. [...] Das ist die Schatzkammer mit unseren Werten. Gedichte erwecken zum Leben, sie wecken das Gewissen und die Gedanken."

Anfang Oktober 2003 sind nun - pünktlich zur Frankfurter Buchmesse - die neuesten Beiträge Russlands zur Literatur auf den deutschen Markt gekommen. Vor allem Krimis, Erzählungen und Romane, die die russische Gegenwart und Geschichte auf verschiedenste Weise thematisieren, erfreuen sich großer Beliebtheit. Zu nennen sind hier insbesondere Autorinnen wie Alexandra Marinina und Viktorija Tokarjeva, Irina Denežkina und Ljudmila Ulitzkaja. Neu entdeckt worden ist zudem Boris Schitkows schillerndes Geschichtsepos "Wiktor Wawitsch". Insbesondere aber Vladimir Sorokin ist darum bemüht, einen Beitrag zur russisch-literarischen Mission zu liefern, die Menschen "aufzuwecken". Allerdings ohne hierbei noch zu glauben, eine "Schatzkammer an Werten" öffnen zu können. Sein neuester Roman "Ljod. Das Eis" versucht mit geradezu brachialer Gewalt das Gewissen der Menschen zu erschüttern, gibt sich aber letztlich keinerlei Illusion hin, auf ein Residuum geistig-kultureller Schätze zu stoßen.

Im ersten Teil seines Romans ziehen blondhaarig-blauäugige Menschen aus, um das Herz ihrer Mitmenschen mit einem Hammer aus in Sibirien gefundenem Meteoriten-Eis aufzuschlagen. Indem sie mit aller Gewalt auf das Brustbein einhauen und beschwörend "Gib Antwort!" oder "Lass dein Herz sprechen!" rufen, suchen sie nach jenen, die zu den 23.000 Erwählten gehören, die noch über ein wahres Herz verfügen, die wirklich leben. Alle übrigen Menschen werden hingegen als "taube Nüsse" und "Fleischmaschinen" verachtet, getötet. Die Schilderung jener Suche, die sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht, vermittelt dem Leser aber nicht nur eine mit Elementen des Science Fiction und gnostisch-nordischer Mysterienreligion ausgestaltete Fantasy-Geschichte, sondern vor allem ein schonungsloses Bild des heutigen Russland, wie es sich in den Metropolen Moskau und Petersburg abspielt: Kleine Drogendealer, die ihre Ware an willenlos dahinlebende Jugendliche verkaufen, deren einzige Abwechslung vom tristen Alltag darin besteht, sich zugedröhnt auf Partys rumzutreiben oder sexuelle Abenteuer zu suchen. Prostituierte, die wie selbstverständlich ihrem 'Gewerbe' nachgehen und von ihren Zuhältern brutalst kontrolliert und erniedrigt werden. Reiche Geschäftsleute, die sich alles kaufen können und für die ein Menschenleben soviel wert ist, dass es kurzerhand im Kühlschrank eingesperrt wird. Oder aber rechtsextreme junge Russen, die einen faschistischen Körperkult pflegen und hinter jeder Ecke die jüdische Weltverschwörung vermuten. Dies ist das Milieu, in dem die so abenteuerlich und reizvoll wie elitär und sektiererisch wirkende Suche nach sprechenden Herzen sich ereignet.

Der schale Beigeschmack, den diese so verführerische Erzählung von den "zur Liebe Erweckten" provoziert, wird im zweiten Teil des Romans bestätigt: Die Schilderung der Anfänge jener Vereinigung des Lichts und der Liebe führt mitten in die Welt der nationalsozialistischen SS-Riege, unter der sich nicht wenige "Erwählte" finden. Die als Rückschau erzählte Erfolgsgeschichte der Suche nach "Erwählten" gerät zu einer Story, in der kitschig-ekstatische Momente der Liebe mit Szenen brutalster Gewalt und Menschenverachtung korrelieren. Immer wieder gibt es Hinweise darauf, dass es sich bei den Ljod-Leuten um eine ideologisch verdächtige Sekte handelt, die zwar quer zu den klassischen Schemata von Tätern und Opfern, Armen und Reichen liegt, aber dennoch nicht weniger elitär und gegen die anderen, die "Herzlosen" inhuman ist. Die Strukturen, die von ihnen aufgebaut werden, um die Suche nach den Ihrigen weltweit auszubauen, können es ohne weiteres mit der Mafia oder dem russischen Geheimdienst aufnehmen. Und so verbirgt sich auch weiterhin hinter der allzu schönen Fassade eines Strebens nach Glück, Liebe und Erlösung die abgründige Welt der Macht, Gewalt und Korruption. Der Traum vom Ljod reiht sich ein in die bereits lange Linie messianisch-apokalyptischer Utopien in Russland, die immer wieder in das zerstörerische Gegenteil des erstrebten Ideals umschlagen.

Im dritten und wesentlich kürzer ausfallenden Teil wird die vermeintliche Erfolgsgeschichte des Ljod und der durch dieses kosmische Eis Erweckten nochmals sowohl gesteigert als auch ironisch pervertiert. Was zuvor als eine gnostisch-spiritistische Erlösungsphantasie mit faschistischen Untertönen angemutet hat, präsentiert sich nun als attraktives "Wellness-Programm" für jedermann: Das kosmische Ljod wird nach allen Regeln der Werbung und mit den aktuellsten Mitteln der High-Tech-Industrie vermarktet. Minuten der Erlösung zum Schleuderpreis! Die Erzählung des Romans wird nun nicht mehr weitergeführt, sondern transformiert sich in eine Art Werbeprospekt, in dem zunächst die Funktionsweise des Wellness-Sets erläutert und anschließend von zahlreichen "Erstanwendern" angepriesen wird. Nach immer gleichem Schema bewirken die Ljod-Schläge, dass man zunächst an ein längst vergangenes Ereignis erinnert wird, daraufhin in einen Weinkrampf fällt und schließlich ergriffen wird von einem Bild, in dem man sich mit jenen "Erwählten" auf einer Insel befindet und in gleißendes Licht schaut. Das "Licht" ist stets der Endpunkt jener Katharsis aus der Steckdose, die sich Menschen allen Alters und jeglicher Gesellschaftsschicht gönnen können. Nur über die Minuten nach der Vision, über die Rückkehr in den Alltag verliert der Autor kein Wort.

Im kurzen vierten Teil - eher ein Post-Scriptum zum Roman - wird schließlich ein wieder anderer, geradezu sensibler Ton angeschlagen. Doch man darf sich auch hier nicht täuschen lassen: Noch im letzten Augenblick, wo der Leser glaubt, eine Winzigkeit an Positivem erfassen zu können, wird man durch ein Bild desillusioniert, das den Zustand nicht nur Russlands, sondern unserer heutigen Zivilisation in wenigen schlichten Worten reflektiert: Ein kleiner Junge entdeckt einen Ljod-Eiswürfel und beginnt damit zu spielen. Zunächst lässt er das Eis von einer Transformer-Figur mit einer Lanze bedrohen: "Geh weg von hier, du dickes Eis!" Das Eis aber antwortet daraufhin mit der kindlichen Stimme des Jungen: "Habt Mitleid mit mir, mir ist kalt!" Vertieft in das Spiel bringt der Junge daraufhin das Eisstückchen zu seinem Plastik-Dinosaurier ins Bett, den er sprechen lässt: "Komm, liebes Eis, ich wärme dich. [...] Hier wird dir warm, du Eis." - So weit ist es also letztlich mit aller Utopie und Liebe gekommen: Dass ein "Plastik-Dinosaurier" einen "Eiswürfel" wärmt. In diesem so kindlich-melancholischen Bild endet der Roman Vladimir Sorokins, der nicht nur ein so sensibles wie schonungsloses Bild des heutigen Russland zeichnet, sondern auch und vor allem einen ironisch-kritischen Beitrag zur ewigen russischen Suche nach "Kultur" und "Erlösung" offeriert.

Titelbild

Vladimir Sorokin: LJOD. Das Eis. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Berlin Verlag, Berlin 2003.
349 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3827004934

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