Griff nach der Historikerdebatte
Ein Sammelband über zeitgeschichtliche Kontroversen
Von Philipp Stelzel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Juni 2002 fand im Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) die Tagung "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" statt, die sich wichtigen Historikerkontroversen nach 1945 widmete. Auf der Tagung selbst gab es kaum Streit; sogar abseits der Wissenschaft war man sich einig, dass Ulrich Herbert seinen Beitrag zum "Historikerstreit" vorziehen sollte, um es den Tagungsteilnehmern zu ermöglichen, das Fußballweltmeisterschafts-Viertelfinale Deutschland - USA zu sehen.
Die Potsdamer Historiker Klaus Große Kracht und Martin Sabrow und ihr Kölner Kollege Ralph Jessen haben nun die einzelnen Beiträge in einem Taschenbuch herausgegeben. Der ursprüngliche Schwerpunkt auf Deutschland ist insofern ein wenig abgeschwächt, als zusätzlich zu den auf der Konferenz präsentierten Beiträgen über zeitgeschichtliche Kontroversen in Frankreich, Polen und der Schweiz auch zwei Aufsätze über Historikerdebatten in Spanien und Österreich aufgenommen wurden.
Hervorzuheben ist, dass die Autoren fast durchgehend darauf verzichten, die alten Schlachten noch einmal zu schlagen, und sich stattdessen um eine Historisierung der Kontroversen bemühen. Das führt einerseits dazu, dass oftmals vorschnell als "unfruchtbar" abqualifizierten Kontroversen plötzlich doch noch etwas abgewonnen werden kann, andererseits erscheinen manchmal von ihren Teilnehmern verklärte Debatten wie etwa die "Fischer-Kontroverse" wieder in normalerem Licht.
Dieser ersten großen bundesrepublikanischen Debatte sind zwei Beiträge gewidmet. Konrad H. Jarausch präsentiert die Auseinandersetzung um Fritz Fischers Thesen in ihrem breiteren (wissenschafts-)politischen Kontext, benennt Stärken und Schwächen von Fischers Studien und kommt zu dem überzeugenden Ergebnis: "Der eigentliche konstruktive Aspekt von Fischers Herausforderung besteht [...] weniger in der Aufdeckung der deutschen Kriegsschuld als in der Universalisierung nationaler Selbstkritik als zentraler Aufgabe der Zeitgeschichte überhaupt". Imanuel Geiss berichtet dagegen aus der Perspektive des "Zeitzeugen": als wissenschaftlicher Mitarbeiter (und Verfasser einer für die Argumentation seines Doktorvaters wichtigen Dissertation) zu Beginn der Debatte bekam er einiges von der eigentlich gegen Fischer gerichteten Kritik zu spüren. Geiss korrigiert manche Verzerrungen der Fischerschen Thesen durch dessen Kontrahenten und liefert viele aufschlussreiche Details zur Debatte - unnötig wirkt lediglich seine abschließende Polemik gegen die "Bielefelder", deren Zusammenhang mit der "Fischer-Kontroverse" dem Leser verborgen bleibt.
Gilt der "Historikerstreit" für gewöhnlich als das negative (weil wissenschaftlich unergiebige) Gegenbeispiel zur "Fischer-Kontroverse", so vertritt Ulrich Herbert die These, dass seine wissenschaftliche Bedeutung zumindest "in der sich durchsetzenden Zentralstellung des Judenmords für die gesamte Zeit der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs" bestehe. Abgesehen davon ist es wohl auch als ein positives Ergebnis des Historikerstreits anzusehen, dass Ernst Noltes zwar geschichtsphilosophisch verbrämte, aber letzten Endes schlicht nationalistische Thesen eine Außenseiterposition geblieben sind - auch wenn die Art der Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten sicher alles andere als angemessen war.
Norbert Freis Urteil über Daniel Goldhagens "Hitler's Willing Executioners" ("Hitlers willige Vollstrecker") und die dadurch ausgelöste Debatte fällt bei aller Kritik relativ milde aus, was sicher auch daran liegt, dass Freis wissenschaftliches Werk - anders als etwa das von Hans Mommsen oder Eberhard Jäckel - durch Goldhagens Thesen nicht in Frage gestellt wurde. Noch ein wenig positiver bewertet Volker Ullrich, der die Medienperspektive auf die Debatte beisteuert, Goldhagens Buch als "produktive Provokation". Zuzustimmen ist Ullrich jedenfalls in seinem Widerspruch gegen die im Zusammenhang mit der Goldhagen-Debatte von Historikern oft geäußerten Medienschelte - diese sollten sich eher überlegen, warum es ihnen nicht (oder nur unzureichend) gelungen ist, ihre ungleich differenzierteren Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln.
Ähnliches lässt sich hinsichtlich der Auseinandersetzung um die so genannte "Wehrmachtsausstellung" festhalten, die Hans-Ulrich Thamer nüchtern und präzise schildert: hier monierten die Fachhistoriker (sofern sie nicht die Ausstellung aus politischen Motiven völlig verwarfen) neben den handwerklichen Mängeln vor allem, dass die Ergebnisse des Instituts für Sozialforschung weitaus weniger sensationell waren als von den Ausstellungsmachern dargestellt - die Beteiligung weiter Teile der Wehrmacht an NS-Verbrechen seien Experten doch schon seit geraumer Zeit bekannt gewesen. Aber warum waren dann selbst interessierte Laien von den Thesen der Ausstellung überrascht? Der Geschichtswissenschaft war es anscheinend auch bei diesem Thema nicht gelungen, ihre Ergebnisse der interessierten Öffentlichkeit mitzuteilen.
Der Blick auf Historikerdebatten im europäischen Ausland (Etienne Francois schildert Frankreichs Auseinandersetzung mit Vichy und dem Algerien-Krieg, Wlodzimierz Borodziej beschreibt den "Abschied von der Martyrologie in Polen", Sacha Zala liefert faszinierende Beispiele für das staatliche "Geschichtsmanagement" in der Schweiz, Alexander Pollak zeichnet den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich nach und David Rey analysiert das "Erinnern und Vergessen im post-diktatorischen Spanien") verweist - bei allen Unterschieden - auf den Umstand, dass der Abschied von liebgewonnenen Geschichtsmythen überall schwer fällt und bestätigt die Notwendigkeit von Konrad H. Jarauschs Forderung nach "Selbstkritik als zentraler Aufgabe der Zeitgeschichte".
Der Bedarf an Selbstkritik scheint in Österreich besonders groß zu sein - denn obwohl dort spätestens seit der Waldheim-Affäre (also erst vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs!) die kritische Zeitgeschichtsforschung starken Auftrieb erhalten hat, bezeichnete der konservative österreichische Bundeskanzler Schüssel sein Land noch im Jahr 2000 als "Hitlers erstes Opfer". Allerdings haben sich in dieser Hinsicht auch die Sozialdemokraten lange Zeit nicht gerade vorbildlich verhalten (Bundeskanzler Kreisky berief 1970 vier ehemalige NSDAP-Mitglieder in sein Kabinett) - die Konkordanzdemokratie prägte in Österreich auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
So unterschiedlich auch die Annäherungen an die einzelnen Kontroversen ausgefallen sind - ein Charakteristikum aller Beiträge ist das Bemühen ihrer Verfasser um Ausgewogenheit und Sachlichkeit. Die einzige Ausnahme stellt ein kurzer Essay von Brigitte Seebacher-Brandt dar, dessen Untertitel zwar "Zum Selbstverständnis der Zeitgeschichte" lautet, der aber zu diesem Thema nichts beisteuert. Vielmehr handelt es sich dabei um ebenso ressentimentgeladene wie undifferenzierte Ausführungen über "die" 1968er und den durch sie ausgelösten Werteverfall. Es bleibt rätselhaft, warum ein solcher Text, der zwischen den hervorragenden Beiträgen von Hans-Ulrich Thamer und Reinhart Koselleck (letzterer beschreibt "die Transformation der politischen Totenmale im 20. Jahrhundert") besonders deplaziert wirkt, von den Herausgebern in den Band aufgenommen wurde.
Doch ändert dies nichts am Gesamturteil: "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" ist in hohem Maße empfehlenswert, als Einführung in die Historikerkontroversen ebenso wie als Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft nach 1945.
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