Larrys Labyrinth

Carol Shields führt den Leser irre

Von Ulrich SonnenscheinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Sonnenschein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Larry will heiraten. Er ist 27 Jahre alt, Angestellter im Blumenhandel und braucht sich um sein Aussehen keine Sorgen zu machen. Es ist das Jahr 1978, ein ganz normales, ereignisloses Jahr, ebenso bunt wie all die anderen in den siebzigern, ebenso übertrieben und ebenso belanglos. Doch für Larry Weller wird sich eine Welt eröffnen. Nicht durch die Ehe mit der schönen Dorrie, nicht durch die Geburt seines Sohnes Ryan, sondern durch ein im Grunde ganz unbedeutendes Ereignis auf seiner Hochzeitsreise in England:

"Am ersten Tag, als er den Irrgarten von Hampton Court besuchte, am 24. März 1978, ein junger nicht weit herumgekommener Florist aus der Mitte Kanadas, der frisch angetraute Ehemann von Dorrie Shaw, die im vierten Monat mit seinem Sohn Ryan schwanger war - an jenem Tag nahm er jedesmal die falsche Biegung. Er kam tatsächlich als letzter der Reisegruppe aus dem Ausgang des Irrgartens getaumelt. [...] Ohne zu überlegen, hatte er seine Schritte verlangsamt, war hinter die anderen zurückgefallen, wollte sich willentlich verlieren, wollte allein sein. Er fragte sich, wie sehr ein Mensch verlorengehen könnte. Verloren auf See, verloren im Wald. Fatal verloren."

In diesem Moment hat Larry, 27 Jahre alt, das Bild für sein Leben gefunden. Der Irrgarten, ein Labyrinth aus Bäumen und Büschen, wird ihn gefangenhalten und ihn nicht mehr freigeben. Zwischen einem Sich-verlieren und einem Sich-wiederfinden wird er all die Jahre, die noch folgen sollen changieren, bis er das Zentrum findet: Larry wird Künstler werden. Aus dem Floristen wird ein Landschaftsgestalter, erst im eigenen Garten, dann für die Prominenz der Welt. Er wird Landschaften entwerfen, in denen man sich verlieren kann, Irrgärten nach antikem Vorbild und nach der eigenen Vorstellung, Labyrinthe mit einer definierten Mitte und einem Weg dorthin und wieder zurück. Zumindest diese Regelmäßigkeit wird er sich erhalten. Doch zum Schöpfer vieler Irrgärten wird er nur, weil man ihm seinen ersten, hinter dem Haus liebevoll gepflegt, zerstört. Aus Angst, er würde den Garten nie zurücklassen und mit ihr in ein neues Haus ziehen, bestellte Larrys Frau Dorrie einen Schaufelbagger und begrub damit ihre Ehe. Und auch zwanzig Jahre später wird sie noch in diesem Haus wohnen, mit dem Blick auf die wild wuchernden Reste des Irrgartens und sich der Folgen ihrer Tat bewußt werden, die für Larry ungeheuren Schmerz und gleichzeitig die Freiheit bedeutete.

"Larry´s Party" heißt der Roman im Original und es ist nur schwer zu verstehen, warum die sonst so sorgsame Übersetzung von Margarete Längsfeld vor dem Titel kapituliert. Denn "Alles über Larry" faßt zwar die einzelnen Kapitel zusammen, die "Larrys Liebe", Larrys Leute", Larrys Arbeit", "Larrys Penis" oder "Soweit Larry" überschrieben sind, doch nicht die teleologische Struktur des Romans. Alles was er erlebt scheint auf den einen Moment hinauszulaufen, wenn er mit seinen drei Frauen und zwei Freunden eine Party feiert, klein und beschaulich, wie sein ganzes Leben, aber doch von einer enormen Wirkung auf den unbekannten Rest. Und das Leben nach der Party erzählt Carol Shields nicht mehr.

"Ungesellig ist er gewesen, seit seine zweite Frau Beth ihn vor drei Jahren verließ. Doch nun wird Beth in der Stadt sein. Und ebenso, durch Zufall. Larrys erste Frau Dorrie - sie wird für ein paar Tage hier sein, geschäftlich. Zwei Exfrauen am selben Wochenende in Toronto. Ein glücklicher Zufall, "Das ist die ideale Gelegenheit eine Party zu geben" sagte Larrys Freundin Charlotte Angus, als sei es bereits beschlossene Sache."

Doch auch bei seiner Party wird er ein Gast sein: Eingeladen in ein neues Leben, das zugleich das alte ist. An die Stelle der Freiheit ist nun wieder die Sicherheit getreten. Er hat das Innere des Labyrinths erreicht. Es scheint paradox, aber die Enge der Irrgärten, ihre verschlungenen Wege und die Frage, ob es hinter der nächsten Biegung noch weitergeht, die labyrinthisch verschlungene Welt war für Larry die einzige Form von Freiheit, wogegen die Wirklichkeit ihm eher Angst machte, ihr schutzlos ausgeliefert zu sein. Und so wird die Party zum grandiosen Finale eines Buches, das selbst wie ein Irrgarten erscheint, jedoch nicht von innen, sondern von oben betrachtet. Klare Strukturen, deutliche Linien und Passagen, Sackgassen und Durchgänge, all das zeigt Carol Shields wie auf einen Blick. Sie durchläuft die Wege immer wieder, macht mal hier Halt, mal dort und holt den Leser zu sich herunter, der aber an keiner Stelle das Ziel aus den Augen verliert. Deshalb ist "Alles über Larry" ein ungleich schwächerer Titel, der eine Totalität signalisiert, wo es um ein gebrochenes Individuum geht, das sich immer wieder verlieren und finden will. Larrys Existenz findet im Zentrum dieses Irrgartens zur Vollkommenheit und der Preis dafür ist der Verlust der Außenwelt.

Carol Shields Reflexionen über einen Mann zum Ende des 20. Jahrhunderts sind deshalb so überzeugend, weil sie bewußt unvollständig sind und sich oft absichtsvoll ziellos bewegen. Wie ein Ornament legt sie ihren Roman an, kommt immer wieder auf dieselben Muster zurück und behandelt alle Figuren bis auf Larry so, daß sie dem Leser fremd bleiben. Immer wieder werden sie vorgestellt, wird ihre Beziehung zu Larry erwähnt oder ihre Eigenschaften erklärt, so daß man sie wiedersieht wie eine bekannte Ecke in einem Labyrinth. Und das Wiedersehen lädt dazu ein, einen Teil des Weges mit ihnen zu gehen, nur um dann festzustellen, daß der Weg in die Sackgasse führte. Aus dieser künstlichen Distanz gewinnt Carol Shields eine ungeheure Intensität: Indem sie einer Figur urplötzlich auf den Leib rückt und jedes Hindernis ignoriert, wird die Nähe zwar spürbar, doch die einzige vertraute Figur ist der Meister des Labyrinths.

Wie Carol Shields sich diesem modernen Mann ohne Eigenschaften nähert, wie sie ihn umkreist, bedient und immer wieder aus den Augen zu verlieren scheint, das macht die Kraft dieses Romans aus. Bei aller Ehrlichkeit ist es ein warmes, einfühlsames Buch, ein Roman, der dem nicht mehr einheitlichen Subjekt zumindest eine äußerliche Struktur zu geben versucht. Es ist tröstlich zu lesen, wie wenig es ändert, daß das Ich nicht mehr definierbar ist, daß die Bezugssysteme fehlen und man sich nicht mehr zurechtfindet, weil es allen so geht. Die Brüchigkeit des Subjekts ist unabhängig von Gesundheit und Reichtum und deshalb auch unheilbar. In den vielen Fragmenten des Ich aber liegt genausoviel Wahrheit wie zuvor in dem ganzen großen Individuum. Die Moderne ist eben nicht nur die Zeit des Zweifels, der kalten Funktionalität und Vielfältigkeit, sondern hält in der Gefahr eben auch die romantische Rettung bereit.

Carol Shields, 1937 geboren, ist bereits eine der großen Damen der amerikanischen Literatur. Ihr Roman "Das Tagebuch der Daisy Goodwill" wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Es wäre schön, wenn dieser Roman irgendwann einmal verfilmt würde, mit William Hurt in der Hauptrolle, verschämt lächelnd, in einem abgetragenen Tweed-Sakko, den Hut lässig in den Nacken geschoben.

Titelbild

Carol Shields: Alles über Larry. Roman.
Piper Verlag, München 1999.
421 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3492040322

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