Lebenswahrheiten

Anton Tschechows frühe Erzählungen in zwei neuen Ausgaben

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Mann schrieb einmal in einer vorsichtigen Annäherung an Tschechow, dieser sei ihm lange als "künstlerischer Leichtfuß" vorgekommen, "ein Mann der kleinen Form, der Kurzgeschichte, zu der es nicht des heroischen Ausharrens durch Jahre oder Jahrzehnte bedurfte". In der Tat mag bis heute ein gewisses Übergewicht in der Wahrnehmung der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts seit Puschkin bei den tiefgründigen Erzählgroßmeistern Tolstoi und Dostojewski liegen. Tschechow blieb als Erzähler zunächst in ihrem Schatten, während er als Dramatiker edle Würdigung erfuhr.

Die beiden vorliegenden Bände mit Erzählungen aus den Jahren 1880 bis 1891 sind die ersten Bände einer vierbändigen Ausgabe der Gesammelten Erzählungen, die eine umfangreiche Auswahl aus dem erzählerischen Werk Tschechows neu vorstellen. "In der Sommerfrische" versammelt Erzählungen aus den Jahren 1880 bis 1887, der zweite Band "Die Fürstin" setzt die Sammlung bis ins Jahr 1891 fort. Tschechow begann als Vielschreiber. Aus seinen ersten Jahren sind über 400 Texte überliefert, von denen für den ersten Band 59 Erzählungen ausgewählt wurden. Die kurzen Texte entstanden als ,Gebrauchsware' für allerlei populäre Zeitschriften und Witzblätter, die sich "Die Libelle", "Der Wecker" oder "Zerstreuungen" nannten. Tschechow lieferte die geforderte leichte Kost nicht nur aus Vergnügen. Mit den Honoraren für seine Texte hielt der junge Medizinstudent die Eltern und seine jüngsten Geschwister über Wasser. Eine harte Schule.

Doch die "komischen kleinen Sachen" des Antoscha Tschechonte, des Spaßmachers, wie er sich selber einmal nannte, entwickeln ein Eigenleben. Sehr bald schon - und der Leser des ersten Bandes kann es nachvollziehen - zeigt sich, dass in die drolligen, flüchtig hingewischten Anekdoten und Alltagsbeobachtungen etwas eindringt, was die Humoresken aufwertet. Etwas Literarisches wird spürbar und von Erzählung zu Erzählung ausgeprägter. Zunächst ist es der liebevoll-ironische Ton, welcher in Geschichten wie "Kroppzeug" aufmerken lässt. Zugleich erahnt man in Tschechows Darstellung des kleinen Beamten, der sich aus einem Gefühl der Unbedeutendheit und Minderwertigkeit nicht wagt, seinen unnützen Dienst während der Osterfeierlichkeiten ruhen zu lassen, eine leise Kritik an den verfestigten hierarchischen Lebensumstände der kleinen Leute. Früh ist auch bereits ein feiner psychologischer Ton zu vernehmen. In der Erzählung "Ein Unglück" erliegt eine Frau in einer Mischung aus Koketterie und ehrlicher Angst um ihre Anständigkeit schließlich doch den Avancen eines Verehrers. "Sie war atemlos, schamrot, spürte die Füße nicht mehr unter sich, aber was sie vorantrieb, war stärker als ihre Scham, ihre Vernunft, ihre Angst". Mit Ironie und einer zuweilen bitteren Komik umspielt Tschechow bereits in den frühen Erzählungen seinen kritischen Blick auf die sozialen und moralischen Verhältnisse im Russland seiner Zeit. Das kann skurril-komische Züge annehmen, wie in der Erzählung "Pech": Die übereifrigen Eltern eines Mädchen belauschen ein Gespräch der Tochter mit ihrem Lehrer und halten es für eine Liebelei. Dieser Bund soll im passenden Moment bekräftigt werden durch das Hereintragen von Heiligenbildern, mit denen die Liebenden gesegnet werden sollen. Doch ach, das "Mamachen" ergreift in der Hektik das Bild eines Schriftstellers - und der Junge Mann ist gerettet. Deutlicher wird Tschechow in der Erzählung "Der Dicke und der Dünne", in der sich zwei alte Freunde treffen und sich herzlich begrüßen. Bald stellt sich heraus, dass der Dicke Karriere gemacht hat. Sogleich ändert sich etwas im Verhältnis der beiden Freunde: "im Gesicht des Dünnen aber spiegelte sich derart viel Ehrfurcht, Klebrigkeit und unterwürfige Säuerlichkeit, daß dem Geheimrat übel wurde. Er wandte sich vom Dünnen ab und reichte ihm zum Abschied die Hand."

Im zweiten Band "Die Fürstin" sind die Erzählungen nicht nur umfangreicher, sondern nun auch endgültig dem leichten Genre entronnen. Schon die erste Erzählung "Wolodja" ist keine Humoreske mehr. Wolodja ist ein geplagter Jüngling, der in eine amouröse Verwirrung gerät, diese nicht mehr bewältigen kann und sich - eher zufällig - mit einem gefundenen Revolver erschießt. Wolodja ist ein tragischer, von der Welt verkannter Held, dessen Hypochondrie Tschechow zu einer ironischen Boshaftigkeit verleitet: Als der Junge geplagt von seinen Wirrungen mit Leidensmiene im Zug steht, nähert sich ihm ein besorgter Mitreisender: "Sie haben wohl Zahnschmerzen?"

Auf der Höhe seiner literarischen Kunst erweist sich Tschechow mit der Erzählung "Eine langweilige Geschichte". Die "mir teuerste von Tschechows erzählerischen Schöpfungen," schrieb Thomas Mann. "ein ganz und gar ausserordentliches, faszinierendes Werk, das an stiller, trauriger Merkwürdigkeit in aller Literatur nicht seinesgleichen hat." Im Mittelpunkt der Erzählung steht ein berühmter Professor der Medizin. Ein des Lebens überdrüssiger Mensch, der hypochondrisch den Tod erwartet. Das Leben, die Leute um ihn herum, die Familie beobachtet er mit resigniert-lakonischer Haltung. So werden die geschickt als "Aufzeichnungen eines alten Mannes" ausgegebenen Beobachtungen zu einer Chronik von Oberflächlichkeit, Opportunismus und Biedersinn einer traditions- und haltlosen russischen Bürgergesellschaft. Die oblomowartige Abwesenheit des Helden von dieser Welt ist eine stille Sehnsucht nach Originalität und Ursprünglichkeit ist. In dieser Sehnsucht werden die Figuren Dostojekwskis schwer und ernst, doch Tschechow hält ironische Distanz zu seinem Helden, dem er so auch etwas lebenswahr Lächerlich-Leichtes mitgeben kann.

Tragik und Komik liegen auch in der titelgebenden Geschichte des zweiten Bandes "Die Fürstin" nah beieinander. Anrührend entfaltet Tschechow eine feine Studie zur Selbstverliebtheit. Die Fürstin, zu Besuch in einem Kloster, sieht sich als ein "kleines Vögelein", das dem mühselig betenden einsamen Mönch in seiner Zelle erscheint und ihm ein glückliches Lächeln abverlangt. In diese selbstverliebte Träumerei trifft sie auf den Doktor, der ihr in einer anfallartigen Empörung alle ihre sämtlichen Fehler vorhält - vor allem ihre Verachtung für die ihr untergebenen Menschen, die sie nur benutzt für ihre Inszenierungen der Güte und Menschlichkeit. Die betroffene Fürstin weint. Als sie am nächten Morgen abreist, stehen die Mönche und der Doktor wie immer zu ihrer Verabschiedung bereit. ,Wie glücklich ich bin' flüsterte sie und schloss die Augen, Wie glücklich ich bin.'"

In solchen "Lebenswahrheiten" gewinnt das erzählerische Werk Tschechows künstlerische Würde und Gestalt, was schließlich auch den zögernden Thomas Mann zu überzeugen vermochte. Dem heutigen Leser seien solche Erzählungen dringend anempfohlen.

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Anton Tschechow: Die Fürstin. Erzählungen 1887-1891.
Übersetzt aus dem Russischen von Vera Bischitzky, Kay Borowsky, Barbara Conrad, Ulrike Lange, Barbara Schaefer und Marianne Wiebe.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2003.
484 Seiten, 24,90 EUR.

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Titelbild

Anton Tschechow: In der Sommerfrische. Erzählungen 1880-1887.
Mit einem Nachwort von Gerhard Bauer.
Übersetzt aus dem Russischen von Vera Bischitzky, Kay Borowsky, Barbara Conrad, Ulrike Lange, Barbara Schaefer, Dorothea Trottenberg und Marianne Wiebe.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2003.
502 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3538054282

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