Und wenn die Partei sagt, es seien nicht vier, sondern fünf Finger?

1984 in der Produktion von 1977 erscheint im Hörbuchverlag 2003

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Freiheit wird als Möglichkeit verstanden, die Wahrheit sagen zu können. So ist "Freiheit die Freiheit zu sagen, dass 2 und 2 gleich vier ist." Davon darf Winston Smith, der Protagonist in George Orwells Distopie "1984", nicht mehr lange überzeugt sein. Die Selbstverständlichkeit von Fakten wird im Roman Stück für Stück zersetzt, bis schließlich nichts mehr davon übrig bleibt: Es gibt keine Freiheit und die Wahrheit gehört der Partei, die durch den "großen Bruder", einen fiktiven Parteiführer, symbolisiert wird.

Nachdem Winston mit Julia, seiner Geliebten, noch eine Zeitlang glaubt, die Strukturen der Macht angreifen zu können, wird er schließlich entdeckt und gefangen genommen. Sein Privatleben mit Julia erweist sich als Illusion. Die Partei beschließt, Winston zu "bekehren": Wenn der Versuch gelingt, den vermeintlichen Dissidenten wieder "auf Linie" zu trimmen, dann ist der Beweis erbracht, dass die Partei wirklich allmächtig ist. Der erste Schritt besteht darin, den Fall Smith umzudeuten: Er ist nicht ein Wahrheitssuchender, sondern ein Kranker, genauer: ein moralisch Kranker in dem Wahn, dass er in Wirklichkeit tugendhaft sei.

Kaum ein anderer Roman der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das Denken der Menschen so beeinflusst. Viele der Schreckensvisionen Orwells von 1948 sind (zu teilweise absurder) Wirklichkeit geworden. Der 1948 fertiggestellte Roman wurde von Christoph Gahl zu einer Hörspielfassung umgearbeitet. Die Inszenierung von Manfred Marchfelder (von 1977) stellt insgesamt eine gelungene Interpretation des Romans dar, die nun im Hörbuchverlag erschienen ist und durch ein aufwendig gestaltetes 12-seitige Booklet abgerundet wird. Dieter Borsche überzeugt als undurchschaubarer, kaltherziger und gleichzeitig makelloser O'Brian. Winston Smith, gesprochen von Ernst Jacobi, erscheint von seinen Hoffnungen getragen, in die kleine Momente des Glücks und der Angst integriert werden. Eine Szene jedoch ist sprachlich unbefriedigend: Als Winston während der Folter mit Ratten konfrontiert wird, ist nicht zu erkennen, dass nun ein Wendepunkt erreicht ist. Die überschrittene Grenze des Zumutbaren wird nicht deutlich. Die Szenen in "Zimmer 101", dem Folterraum, sind insgesamt aber sehr eindrücklich: Das unangenehme Gefühl des bitteren Versagens vor der unausweichlichen Macht wird überzeugend vermittelt.

"Wie", so fragt O'Brian, "versichert sich ein Mensch seiner Macht über einen anderen? Antworten Sie!" Und Winston antwortet: "Indem er ihn leiden lässt." Die Folter, nicht Tod oder Krankheit, nicht Wahrheit oder Freiheit, erweist sich damit als oberstes Manipulationsinstrument: "Wollen Sie bitte während unserer ganzen Unterhaltung daran denken, dass es in meiner Macht steht, Ihnen in jedem Augenblick und in jedem von mir gewünschtem Grade Schmerz zuzufügen." Die Aufforderung an Winston, seine Wahrheit zu erzählen, wird durch Stromschläge zu erpressten Bekenntnissen pervertiert. Die zugefügten Schmerzen kontrollieren schließlich seine Gedanken. Und wer die Macht hat, den Geist zu kontrollieren, kontrolliert so die Materie, d. h. die Welt. Winston sucht im Tod eine leichtere Alternative, wenn er darum bittet: "Erschießen Sie mich."

Daran haben die Handlanger der Partei allerdings kein Interesse. Ihre Aufgabe ist das Implementieren der Parteiwahrheit. Diese beruht auf der schlichten Einsicht, dass es keine Wirklichkeit außerhalb des menschlichen Geistes gibt: "Die Wirklichkeit spielt sich im Kopf ab. Sie glauben, die Wirklichkeit sei etwas äußerliches, Greifbares", so formuliert es O'Brian, "aber ich sage Ihnen, die Wirklichkeit existiert im menschlichen Denken, nirgendwo anders. Nicht im Denken des einzelnen, der irren kann und schnell zugrunde geht, sondern im Denken der Partei, die allmächtig und unsterblich ist. Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist wahr." Hierin zeigt sich, dass die Macht alles bedeuten kann. Nicht klassische Werte wie Glück, Nutzen oder Liebe, sondern der Machtbesitz erweist sich als letzter Zweck. So offenbart O'Brian: "Wir wissen, dass nie jemand die Macht in der Absicht ergreift, um sie wieder abzutreten. Die Macht ist kein Mittel, sondern ein Endzweck. Der Zweck der Macht ist die Macht."

Winstons Wille wird schließlich gebrochen: Nun ist die Antwort auf die Frage, was zwei und zwei ist, manchmal fünf, manchmal drei. Der Wille der Partei macht einen eigenen Willen überflüssig. Das durch Folter abgepresste Anerkennen der Parteimacht ist nur durch einen tiefen Stumpfsinn zu ertragen. Nur so ist Winstons letzter Satz im Hörbuch möglich: "Ich liebe den großen Bruder."

Titelbild

George Orwell: 1984. 2 CD.
Der Audio Verlag, Berlin 2003.
106 min, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3898132617

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