Hiob - herausragendste Deuterfigur des modernen Judentums

Gabrielle Oberhänsli-Widmer untersucht antike und moderne Hiob-Texte

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei zeitliche Schwerpunkte prägen die Wirkungsgeschichte von Hiob in der jüdischen Literatur: die jüdische Antike mit dem biblischen Original und den frühjüdischen und rabbinischen Folgetexten sowie das 20. Jahrhundert mit einer Fülle von Romanen, Theaterstücken und Gedichten über Hiob, die vorwiegend mit der Schoa-Thematik verknüpft sind. Beide Zeitabschnitte werden von der Philosophieprofessorin Gabrielle Oberhänsli-Widmer (sie ist Privatdozentin für jüdische Religionsgeschichte, Lektorin für Hebräisch an der Universität Zürich und Mitherausgeberin der Neukirchener Zeitschrift "Kirche und Israel") genau beleuchtet.

Ausgangspunkt der jüdischen Hiobrezeption ist das Buch Hiob in der Hebräischen Bibel, das die größte Angriffsfläche auf Gott zulässt. Im Frühjudentum, in dem eine ausführliche Debatte um Hiobs Judesein oder Nichtjudesein geführt wurde, so legt die Autorin dar, erfreute sich der biblische Protagonist, wie auch im patristischen Schrifttum, als gottergebener Dulder einer ungebrochenen Wertschätzung. Im jüdischen Mittelalter fristete er dagegen ein Mauerblümchen-Dasein und war im Judentum bis zur Neuzeit nur marginal vertreten, da ihn die Rabbinen als Goj, also als Nichtjuden, liturgisch ausgegrenzt und sich, im Gegensatz zur christlichen Rezeption, vorwiegend auf die negativen und abwertenden Motive in der Geschichte des Hiob konzentriert hatten. Diese Haltung wirkte sich lange Zeit auf die gesamte jüdische Hiob-Rezeption aus. Selbst im heutigen jüdischen Gottesdienst kommt Hiob nicht vor. Ähnlich wie die Rabbinen auf jüdischer Seite, so haben auf christlicher Seite die Kirchenväter die Wirkungsgeschichte dieser biblischen Figur über Generationen und Jahrhunderte bestimmt. Dabei hat die Frage nach der jüdischen oder nichtjüdischen Abstammung Hiobs christliche Ausleger kaum je beschäftigt. Vielmehr wurde er in den Reigen christlicher Glaubenshelden aufgenommen, wobei die frühe christliche Gemeinde in ihrem Bemühen, sich vom Judentum zu distanzieren, an der jüdischen Provenienz dieses Vorbildes nicht das mindeste Interesse hatte, während man sich in der jüdischen Diskussion schon früh mit der Frage befasst hatte, welchem Geschlecht Hiob zuzurechnen sei.

In der jüdischen Literatur kommt es zu einer grundsätzlich neuen Lesart Hiobs erst in der Neuzeit, mit der im 18. Jahrhundert einsetzenden Aufklärung und Säkularisation des Judentums, nämlich durch den Bruch mit der Überlieferung und den Aufbruch in neue Interpretationsgefilde. Erstmals werden nun auch nicht-rabbinischen Stimmen Gehör und Gewicht verliehen. Schließlich wird Hiob zu einer der herausragendsten Deutefiguren des modernen Judentums. Die verheerenden Verfolgungen des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, die Pogrome in Osteuropa und die Schoa, machen die Theodizee-Frage dringlicher denn je. Welche biblische Figur wäre da wohl geeigneter gewesen, Gott anzuklagen für das schreckliche Leid, das über sein Volk gekommen ist, als Hiob, fragt sich die Autorin und macht deutlich, dass auf diese Weise der Goj Hiob ins Judentum zurückgeholt worden ist. Doch mehr noch als der Dulder, als den ihn die Antike gesehen habe, habe nun der Rebell, der Ankläger Gottes, alle Empathie auf sich gezogen.

Die eigentliche Renaissance kreativen Schaffens zur Hiob-Figur setzt im jüdischen Schrifttum somit erst wieder im ausgehenden 19. Jahrhundert ein, mit der osteuropäischen jiddischen Literatur, vor allem mit den Geschichten von Scholem Alejchem und Isaak Leib Perez. Selbst im heutigen Israel entstanden schon Anfang des 20. Jahrhunderts hebräische Hiob-Fassungen.

Gabrielle Oberhänsli-Widmer setzt sich in diesem Zusammenhang mit drei Texten, die die Basis für das Bild Hiobs zu Beginn des 20. Jahrhunderts bilden, ausführlich auseinander: mit dem hebräischen Gedicht "Meine Bibel ist aufgeschlagen im Buche Hiob" der Dichterin Rachel, mit der jiddischen Erzählung "Bontsche Schweig" von Isaak Leib Perez und mit Joseph Roths "Hiob"-Roman. Aber auch andere Dichter wie Scholem Alejchem mit "Tewje der Milchmann" und der jiddisch schreibende Dramatiker Jakob Gordin mit "Got, Mentsch un Tajvl", die ebenfalls Hiob als Motiv in ihre Dichtung mit aufgenommen haben, werden kurz vorgestellt, ebenso Alfred Döblins Geschichte "Berlin Alexanderplatz" mit der Hauptperson Franz Biberkopf, der schon vor der Schoa als Symbol des leidenden und heimatlosen Juden gesehen worden war.

Die Autorin weist darauf hin, dass von 1930 bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, aus nahe liegenden Gründen, in der jüdischen Literatur keine großen Hiob-Werke erschienen sind. Wohl mag mancher Jude oder manche Jüdin Hiobs Frage an Gott gerichtet haben: "Dass sie dies aber nicht laut und öffentlich tun konnten, dafür sorgte ein Regime, das jüdische Stimmen definitiv zum Schweigen bringen wollte."

Dann aber setzt eine gewaltige literarische Hiob-Produktion ein, deren Kern bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts die Schoa ist. Hiob wird nun kollektiv als Symbol des leidenden jüdischen Volkes gedeutet, sowohl in der jüdischen Literatur als auch in der jüdischen Philosophie, nicht jedoch in den jüdischen Holocaust-Theologien. Noch stärker als die Texte des beginnenden 20. Jahrhunderts betont die Literatur der Schoa das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Hiob und der jüdischen Gemeinschaft und beteuert ihre Solidarität mit dem leidenden Hiob. Jetzt ist er nicht nur der zeitlose "juif errant", sondern der Jude im Konzentrationslager. Zur Deutefigur der Schoa wird Hiob zum Beispiel bei Margarete Susman, Schalom Ben-Chorin, Nelly Sachs, bei Yvan Goll, bei Karl Wolfskehl und bei Mascha Kaleko. Vergeblich sucht man allerdings die Figur Hiobs bei den, neben Nelly Sachs, berühmtesten Repräsentanten der deutsch-jüdischen Literatur, bei Else Lasker-Schüler und Paul Celan. Selbst der 1995 auf Hebräisch erschienene Roman "Nenn mich nicht Hiob" von Jossel Birstein setzt sich noch mit der Schoa auseinander und versucht sich, von ihr zu befreien.

Hiob taucht auch im Kontext jüdischer Holocaust-Theologien auf. Indes sind hier die Texte in linearer Weise abgefasst im Gegensatz zur Dichtung, die ihr Denken in vieldeutig schillernde Bilder kleidet. Daher sind die theologischen Erklärungsansätze unzulänglicher und kritikanfälliger als die lyrischen Entsprechungen, meint Oberhänsli-Widmer.

Inzwischen hat die jüdische Literatur noch einen weiteren Lebensabschnitt in Hiobs Biographie entdeckt, indem sie danach fragt, wie man mit der "Wiedergutmachung" und nach einem radikalen Neuanfang leben kann. Zudem ist Hiob in der israelischen Literatur zur Protestfigur geworden. Im Rundumschlag protestiert er gegen alles und jedes: gegen Tradition und Konvention, gegen Gott und das Judentum, gegen das Patriarchat, gegen Krieg, Militär und anderes mehr, vor allem aber dagegen, der Schoa im besonderen und dem Leben im allgemeinen eine theologische Sinngebung zuzugestehen. In Meir Shalevs "Es war einmal ein Mann im Lande Hiob" wird beispielsweise aus der Sicht eines antiklerikalen Zynikers sogar Protest gegen das Buch Hiob als Ganzes laut. Einen Markstein in der Hiob-Rezeption verankert ferner der Bühnenautor Chanoch Levin mit seinem Stück "Die Leiden Hiobs", das 1981 in Tel Aviv uraufgeführt wurde.

Nun erst, im 20. Jahrhundert treffen sich jüdische und nichtjüdische Autoren wieder in ihrer Sicht auf Hiob. Doch in den rabbinischen Schriften steht er weiterhin am Rand, da hier nach wie vor die kritische Einschätzung Hiobs durch den Talmud nachwirkt.

Gemeinsam ist überdies allen Hiob-Texten, dass sie nach einer Sinngebung des Leidens fragen, wobei sich die Antworten von klassisch theologischen Ansätzen bis zur strikten Verneinung jeder Sinngebung, wie etwa in Chanoch Levins "Die Leiden Hiobs", verweigern. Die Frage nach der Verantwortlichkeit Gottes gegenüber dem Bösen in der Welt ist fester Bestandteil in fast allen Hiob-Texten. Gemeinsam ist den Autoren, sowohl den alttestamentlichen Verfassern als auch den späteren Hiob-Autoren das Bewusstsein, den Sinn des Leidens nie befriedigend ergründen zu können. Gleichwohl gehören Hoffnung und "Happyend" weiterhin zum traditionellen Hiob-Stoff, konstatiert die Autorin und schließt ihr ungemein lesenswertes und gerade für nichtjüdische Leser überaus aufschlussreiches Buch mit einem Ausspruch, den Zvi Kolitz seinem Stück "Jossel Rakjovers Wendung zu Gott" vorangestellt hat:

"Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt."

Titelbild

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Die Wirkungsgeschichte Hiobs in der jüdischen Literatur.
Neukirchener Verlag, Neukirchen 2003.
356 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3788719451

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