Liebesgrüße ans letzte Jahrhundert

Internationale Dichter und Denker über ihr ganz persönliches "Jahrhundertbuch"

Von Bettina LaudeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Laude

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Kanon sollte es werden, sondern eine "imaginäre Zentralbibliothek, zusammengestellt von berühmten Dichtern und Denkern", so Herausgeberin Iris Radisch. Herausgekommen ist eine Sammlung von 51 ganz subjektiven Lese-Erfahrungen. Radisch nennt sie "Liebeserklärungen". Die Literatur-Redakteurin der "ZEIT" wollte wissen, welches das wichtigste Buch des unlängst zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts ist. Gefragt haben sie und ihr "ZEIT"-Team Schriftsteller, Philosophen, Literaturwissenschaftler und andere Kulturschaffende aus der ganzen Welt; jüngere wie Raoul Schrott (Jahrgang 1964), ältere, international renommierte wie Nadine Gordimer (Jahrgang 1923) oder George Tabori (Jahrgang 1914), sie alle sind vertreten. Bewertungskriterien: keine. Nur die persönliche Neigung der Befragten zu einem Buch des letzten Jahrhunderts zählte. Die "Jahrhundert-Bibliothek" ist folglich eine Bibliothek der Vorlieben. Klar, dass sich Radisch nicht nur eine - natürlich unrepräsentative - Bestenliste versprach, sondern auch auf literarisch interessante Begründungen hoffte. Wie schreiben Sprachkünstler über ihre Lieblings-Sprachkünstler? Nicht zu verachten ist auch der Blick in die Innenwelt der Befragten. Welcher Literaturfreund wollte nicht schon mal wissen, welches Siegfried Lenzens, Milan Kunderas oder Louis Begleys Herzensbuch ist.

Das Statistische zuerst: Sieger nach Stimmen ist Franz Kafka, gefolgt von Marcel Proust, Robert Musil, Samuel Beckett und - das ist die Überraschung - Alexander Solschenizyn. Was beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses sofort auffällt: Obwohl Autoren aus aller Welt nach ihrem Lieblingsbuch gefragt wurden, ist die Heimat der Literatur des 20. Jahrhunderts vor allem Europa, insbesondere Deutschland, Frankreich, Russland und Italien. Und obwohl vom Essay übers Gedicht bis zum philosophischen Werk alle Textsorten wählbar waren, sind es doch die Romane, die den prominenten Lesern am meisten ans Herz gewachsen sind. Und zwar die der Realisten des so genannten bürgerlichen Zeitalters. Neben Kafka, Musil und Proust werden Thomas Mann, James Joyce und Albert Camus genannt. Insofern liegt die subjektive Jahrhunderbuch-Wahl sehr dicht bei den gängigen Literatur-Kanones. Allerdings hört diese Nähe auf, je weiter wir im 20. Jahrhundert voranschreiten. Denn Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur wie Uwe Johnson, Heinrich Böll, Günter Grass und Max Frisch wurden nicht in den Neigungs-Jahrhundertzirkel gewählt. Auch die jüngste Literatur fehlt ganz.

Und noch etwas ist anders als in den Kanones: Neben den Meilensteinen der Weltliteratur stehen Kindheitsbücher, Wörterbücher, nur regional Bekanntes. Berühmte Dichter und Denker sind auch nicht anders als wir normalen Leser. Mal lesen sie, was ihnen empfohlen wird, mal, was die eigene Profession nahe legt, mal aber auch, was das Leben ihnen in die Hände wirft. Brigitte Kronauer etwa hat ihr Jahrhundertbuch "Little Nemo" beim Stöbern in einer Hamburger Buchhandlung entdeckt.

So unterschiedlich die Wahl, so unterschiedlich die Begründungen. John le Carré braucht nur sechs Zeilen und zwei Sätze, um zu sagen, warum ihm Tobias Wolffs "In der Armee des Pharaos" am meisten bedeutet. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty geht seine Wahl analytisch an: "Das wichtigste Buch des Jahrhunderts müsste das Werk sein, dem zukünftige Historiker einhellig die größten Veränderungen im Selbstbild der menschlichen Rasse zuschreiben werden." Seine These führt ihn zu Siegmund Freuds Einführung in die Psychoanalyse.

Von den großen Gedankengebäuden und theoretischen Werken des 20. Jahrhunderts ist sonst nicht viel geblieben. Nur Martin Heideggers "Sein und Zeit" und Adornos/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" konnten sich ins persönliche 21. Jahrhundert retten. Welche mörderische Macht eine der prägendsten Ideologien des letzten Jahrhunderts - der Kommunismus - angenommen hatte, zeigt Alexander Solschenizyn in "Archipel Gulag". Zweimal ist dieses Werk als persönliches Jahrhundert-Buch genannt worden. "Dieses Buch ist der beste Beweis, dass Literatur Reiche erschüttern kann", sagt Ivan Klima. Ein Glaube, der alle 51 Lesefreunde vereint: Es ist der Glaube, dass Literatur verändern, lehren und heilen kann.

Titelbild

Iris Radisch (Hg.): Mein Jahrhundertbuch. 51 Liebeserklärungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
196 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-10: 3518455540

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