In Träumen verlebt

Rudolf Noeltes Hörspielfassung von Tschechows "Drei Schwestern"

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn in einem Tschechow-Stück ein Geburtstag ansteht, ist das kein Anlass zur Freude. Die drei Schwestern, die jüngste gerade zwanzig, schauen bereits völlig resigniert in das Photoalbum der eigenen Vergangenheit zurück, als sei das Leben an ihnen vorbeigezogen. Seit elf Jahren sind sie fort von Moskau, doch in der Provinz angekommen sind sie nie. Die Arbeit am Gymnasium oder auf dem Telegrafenamt macht sie mürbe, sie quälen sich mit Kopfschmerzen und verzehren sich in ihren Träumen. Das Hier und Jetzt verfehlen sie, denn die besten Jahre verrinnen in erstarrter Erinnerung und utopischen Mutmaßungen.

Obwohl die Eltern lange tot sind, werden die Geschwister nur alt, ihr Leben bringt keine Frucht: Mascha ist unglücklich mit einem ebenso gutmütigen wie senilen Schulmeister verheiratet, Olga vertröstet sich auf die Rückkehr nach Moskau, Irina sieht geduldig ihre Zukunft kommen und der Bruder Andreij, die große Hoffnung der Familie, verschleißt sein wissenschaftliches Talent in der Gemeindeverwaltung und vergeigt im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit. Ihre Bildung verschafft ihnen keine Freiräume, sondern macht sie alle vier zu Gefangenen im eigenen hochtrabenden Lebensentwurf. Andreijs Ehe mit der bodenständigen Natascha ist so von vornherein zum Scheitern verurteilt, die Reibereien mit den Schwestern vorprogrammiert.

Im Hause Prosorow treiben sich allerlei desillusionierte Gestalten herum: Ein versoffener Arzt, der die Schuld an einer zu Tode kurierten Patientin nicht einmal mehr vertuschen mag, ein verarmter Baron, der immer nur vom Morgen spricht und ein Oberstleutnant, der den Frauen als Sensation erscheint, weil er aus Moskau kommt. "Aus Moskau!" Am glücklichsten ist noch das alte Gesinde, das sich mit seinem Leben abzufinden gelernt hat. Die Gesellschaft rottet sich derweil auf festlichen Hausabenden zusammen, die bloß eine müde Maske über der erdrückenden Einsamkeit sind, und das Geschwätz über Voltaire ist ein ebenso durchsichtiges Feigenblatt über der krankhaften Langeweile wie die Patiencen, die nicht aufgehen wollen.

Unter dieser hauchdünnen Oberfläche brechen ständig Nachrichten über neue Katastrophen hervor: Ein Selbstmordversuch, ein verspieltes Haus, nichts vermag die Figuren zum Handeln anzutreiben. Sie verharren in ihrer Larmoyanz, philosophieren über die übernächste Generation, heiraten nach dem Prinzip der Beliebigkeit, so dass Andreij nicht schärfer diagnostizieren könnte: sie seien alle ununterscheidbare Leichname. Moskau ist der Schmelztiegel aller Träume, doch dass Moskau längst eine andere Stadt und ohnehin bloß Chiffre für ein unerreichbares Glück ist - keiner will das wahrhaben. "Geh, ohne dich umzublicken, und je weiter du gehst, um so besser." Solche Vorschläge überhört man bei den Prosorows allzugerne.

Tschechows Figuren leiden wie alle Bühnengestalten der Jahrhundertwende an einer Zeit, die sich schneller bewegt, als es die Menschen vertragen. Die Dramatiker suchten auf vielen Pfaden nach Lösungen: Bei Ibsen fiele in diesem lähmenden Stillstand ein Schuss, bei Strindberg reichte man dem Gegenüber bedeutungsvoll ein Rasiermesser oder lockte es in eine psychiatrische Zwangsjacke, Hofmannsthal hätte Szenarien der Blutsrache altgriechischer Herrscherfamilien als Spiegel einer nur schwerlich zu artikulierenden Gegenwartskrise beschworen. Überall also noch ein Rest Tragödie. Nur bei Tschechow werden die Menschen schlicht zu lichtscheuen Schattengestalten, das Leben geht weiter, weiter, weiter. Weder ein verheerender Stadtbrand noch ein tödlicher Schuss bringt die ersehnte Katharsis. Und Irina sinniert: "Vielleicht braucht es nur ganz wenig, um zu wissen, warum wir leiden. Wenn man das nur wüßte. Wenn man das nur wüßte."

Doch Tschechows "Drei Schwestern" sind trotz ihrer Hoffnungslosigkeit nicht so düster wie manch vergleichbares zeitgenössisches Drama. Die Leichtigkeit, die dieses triviale Elend bisweilen innehat, bringt Rudolf Noelte in seiner Hörspielfassung virtuos zum klingen. Überhaupt sind Tschechows einsame Dialoge wie geschrieben für ein Hörspiel. Jeder spricht seine Wahrheiten für sich und wimmelt die lästigen Gespräche rasch ab, die eigentliche Kommunikation ist ohne Belang. Wie eine Fuge untermalt Noelte die Klageworte des ersten Aktes mit einer sachte vor sich hintröpfelnden Klaviermelodie, fröhlich und dissonant zugleich, und die Stimmen von Ernst Jacobi, Evelyn Matzura, Gertrud Kückelmann und der wunderbaren Cordula Trantow scheinen geradezu mit der Musik ineinanderzufließen. Später hört man nur noch das Kratzen einer Geige, die ferne Abschiedsmusik des Militärs und das Rascheln der Zeitung, die für ihre Leser bestenfalls Unterhaltungswert hat.

Nach dem "Kirschgarten" (1969) hat der Hörverlag nun auch die "Drei Schwestern" (1971) des kürzlich verstorbenen Regisseurs neu herausgebracht. Wer Tschechow liebt, sollte sich dieses Hörbuch nicht entgehen lassen. Theaterkenner freuen sich über die marthalernde Atmosphäre, die entstand, lange bevor der Meister selbst oder Stefan Pucher diesen Figuren neues Leben einhauchten. Wie von selbst legt Tschechows Stück dem heutigen Hörer den Vergleich von "Moskau, Moskau" mit dem umhypten Berlin nahe. Wieviel dieser nie angekommenen Figuren sehen wir in den täglichen Soaps, mehr noch, steckt davon in uns selbst. Noeltes Inszenierung gibt diesen verlorenen Wesen eine erträgliche Würde.

Titelbild

Anton Tschechow: Drei Schwestern. 2 CD.
Der Hörverlag, München 2003.
130 min, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3895847062

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch