Visuelle Alphabetisierung

Peter Burke ringt als Historiker mit der "Augenzeugenschaft"

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist kein Geheimnis, dass Bilddokumente in den Geschichtswissenschaften noch immer ein wenig stiefmütterlich behandelt werden. So sind wir das schon von unseren Schulbüchern her gewohnt, in denen immer dieselben bekannten Bilder dazu herhalten, den lesend zu erlernenden Stoff optisch ein wenig aufzuheitern. In einigen Disziplinen jedoch geht der Wert visueller Quellen über das rein Illustrative weit hinaus: Wo schriftliche Dokumente nicht zur Verfügung stehen oder nur mühsam zu gebrauchen sind, greift man seit jeher auf bildhafte Überlieferung zurück, etwa in der Vor- und Frühgeschichte oder der Geschichte Ägyptens und Mittelamerikas. Eine kultur- oder sozialwissenschaftlich orientierte Gesellschaftsgeschichte kann ebenfalls Themenkomplexe wie "Propaganda" nicht ohne systematischen Rückgriff auf Bildmaterial bearbeiten.

Der kulturhistorisch umtriebige Kunsthistoriker Peter Burke, tätig in Cambridge, erkennt aber das Prinzipielle in der Frage der Behandlung von Bildquellen durch die Historiker. Für die im 20. Jahrhundert in der Zunft noch dominante Generation des Vorfernsehzeitalters diagnostiziert er "visuellen Analphabetismus" und möchte mit dem vorliegenden Band eigener Aussage nach "zur Verwendung dieser [Bild-] Quellen anregen, aber auch vor den Tücken warnen, die damit verbunden sind."

Wobei sein erstes Vorhaben sicherlich gelungen ist. Selbst die verlagstypisch üppige Bebilderung kann nur einen kleinen Teil der besprochenen Bilder im Buch aufnehmen. Burke scheint sein privates Schatzkämmerchen der Kenntnis der Malerei aufzumachen, so breit gestreut liegen die Beispiele. Burke lehrt uns, genau auf den zeitgenössischen Kontext zu achten, wenn zum Beispiel in Tizians "Himmlische und Irdische Liebe", um 1515, das eine nackte und eine bekleidete Aphrodite zeigt, wegen der damals üblichen positiven Bewertung des nackten Körpers Erstere als die Himmlische identifiziert werden muss, was im 19. Jahrhundert grundlegend anders verstanden wurde. Dazu sollte bei Bildern, die explizit für sich in Anspruch nehmen, Realität zu repräsentieren, stets Vorsicht walten. Im Falle der detaillierten technischen Illustrationen zur französischen "Encyclopédie" (1751-1765) findet sich, dass der gestaltende Künstler lediglich frühere Abbildungen überarbeitete, also mitnichten den aktuellen Stand der Technik aus eigener Anschauung wiedergab. Ein Vergleich mit anderen zeitgenössischen Abbildungen oder eben schriftlichen Quellen kann zum Beispiel die Amsterdamer Stadtansichten des Gerrit Berckheyde aus dem 17. Jahrhundert als "gesäubert" entlarven, da das bunte Straßenleben schlichtweg ausgelassen wurde, und anstatt Händlern, Straßenmusikanten und Haustieren nur ein paar stocksteif herumstehende, dem Maler quasi posierende Figuren gezeigt werden.

Von hier ist der Weg nicht weit zu den Mahnungen, dass auch authentischer wirkende Medien wie Fotografie und Film nicht gegen Fälschungen immun sind, obwohl gerade sie "Augenzeugen" sein wollen. Das ist spätestens seit dem Verschwinden Trotzkis oder Gottwalds aus staatssozialistischem Bildmaterial wohlbekannt und wurde erst kürzlich von der Ausstellung "Bilder, die lügen" im Deutschen Historischen Museum in Berlin thematisiert. So gelingt Burke zwar auch sein zweites Vorhaben, vor den Fallstricken der Heranziehung von Bildern zu warnen, doch ist dies für die Nachfahren der Vorfernsehgeneration schon eher ein Gemeinplatz.

Der Großteil des Buches bewegt sich leider auf konventionellem Boden der Bildinterpretation. Der Ton ist vorwiegend deskriptiv und der Autor scheint selbst ein wenig ratlos zu sein, wie er seiner ungeheuren Masse an Beweismaterial methodisch gewinnbringend zu Leibe rücken soll. Das Buch ist gegliedert nach Themengebieten wie "Das Heilige und das Übernatürliche" oder "Macht und Protest", deren Begrenzungen nirgends so recht begründet werden, und die mit vorgeblich analytischen Kapiteln wie "Jenseits der Ikonographie?" und "Die Kulturgeschichte der Bilder" ohne Unterteilung einträchtig nebeneinander stehen.

Um dem Untertitel gerecht zu werden und Bilder als historische Quellen handhabbar zu machen, ist die Entwicklung einer Methodik, respektive die kritische Prüfung existierender methodischer Herangehensweisen am neuen Objekt unverzichtbar. Dem Leser wird ein großes Repertoire an theoretischem Material präsentiert, das auch gleich am Objekt demonstriert wird. Von der Warburg-Schule über die Psychoanalyse zum Strukturalismus demonstriert Burke, wie Bilder interpretiert und interpretatorisch in größere Zusammenhänge eingefasst werden, wobei sich theoretische Modelle bekanntermaßen ausgesuchter Beispiele bedienen und in einem anderen Kontext falsifiziert werden können. Das Problem mit diesem Buch ist aber, dass der Autor beim Interpretieren bleibt. Eine Methodologie, aus der sich konkrete Handlungsanweisungen an den praktizierenden Historiker ableiten ließen, erarbeitet er aber nicht.

Die Einleitung macht aber genau darauf Hoffnung. Burke preist die Weitung des Blickwinkels infolge des cultural turns, und hat selbst vor kurzem in "Papier und Marktgeschrei" demonstriert, dass "Kulturwissenschaft" und "Diskurs" feste Elemente seines Arbeitens sind. Darauf aufbauend, hätte sich der Leser vielleicht in diesem Band eine vertiefte Diskussion über das Wesen einer historischen Quelle erhofft, wie sie unter Historikern durchaus geführt wird. Das Quellenverständnis des Kunsthistorikers Burke setzt sich ausdrücklich gegen alte Gewohnheiten ab, wird aber im Positiven nicht formuliert. Dazu wäre es gewinnbringend, etwa seine Kritik von Bildern und Fotografien, die auf "Augenzeugenschaft" pochen, dem Umgang mit schriftlich abgefassten Augenzeugenberichten gegenüberzustellen. Da die Argumentation aber in ihrem bildinterpretatorischen Rahmen verbleibt, sind die vorsichtig gezogenen Schlüsse auch nicht von allzu großem Neuigkeitswert: Dass Bilder "keinen direkten Einblick in die soziale Welt, sondern [...] einen Zugang zu zeitgenössischen Sichtweisen auf diese Welt" eröffnen, gilt für jede Art der Überlieferung. Dass Bilder in mehreren Kontexten zu interpretieren sind und unwillentlich "Informationen [bieten], von denen die Bildproduzenten nicht einmal wussten, dass sie sie besaßen" ebenso. Ein großes methodisches Problem nicht zu lösen, ist keine Schande, aber etwas energischer hätte der Versuch doch ausfallen können.

Titelbild

Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2003.
256 Seiten, 26,50 EUR.
ISBN-10: 3803136105

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