Mensch oder Frau!

Magdalene Marszalek untersucht das autobiographische Projekt der polnischen Autorin Zofia Nalkowska

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Polen gehört sie schon lange zum literarischen Kanon des 20. Jahrhunderts, hierzulande ist sie noch immer nahezu unbekannt: Zofia Nalkowska. Ersteres zu Recht, letzteres durchaus zu Unrecht. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war sie im östlichen Nachbarland eine "literarische Institution", wie Magdalene Marszalek feststellt. Nalkowska verfasste jedoch nicht nur zahlreiche Romane, die ihren Ruhm begründeten, sondern führte darüber hinaus mit nur wenigen Unterbrechungen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ein "journal intime, das seine Privatheit beinahe zelebriert". Diesem gigantischen "autobiographischen Projekt", dessen Edition erst in den letzten Jahren abgeschlossen werden konnte, widmet sich Marszalek mit dem Ziel, "die Bedingungen und Realisierungsmodi" von Nalkowskas autobiographischer Konstruktion ihrer selbst zu rekonstruieren.

Zwei Themen spielen in Nalkowskas Diarien - ebenso wie in etlichen ihrer literarischen Werke - eine herausragende Rolle: zum einen ihr "dramatische[s] Verständnis" der Weiblichkeit, in dem sich ein "basaler Impetus" ihrer "autobiographischen Selbst-Konstruktion" verbirgt, und zum anderen das Körperliche, dem Marszalek eine "konstitutive Rolle" in Nalkowskas "diaristische Selbst-Beschreibung" zuschreibt.

Weiblichkeit, stets ein Thema der über die Jahrhunderte hinweg meist von Männern verfassten Literatur, avancierte im Fin de siècle geradezu zur "diskursiven Obsession", an der als eine der nun mehr zahlreicher in Erscheinung tretenden Autorinnen auch Nalkowska teilhatte. Dabei, so Marszalek, laufe Nalkowskas "dandyistische Ästhetisierung" der Weiblichkeit nicht nur auf eine "Pervertierung kultureller Konstruktion der Kongruenz des Weiblichen mit dem Natürlichen" hinaus, mit ihren "Maskerade- und Transgress-Strategien" übertrete sie zudem die "Gender-Muster" der Jahrhundertwende und lasse so die "Einschränkungen im Zugang von Frauen zur Subjektivität und Autorität" hervortreten. So begründet der Hinweis auf Nalkowskas Maskerade- und Transgress-Strategien sein mag, ist der von Marszalek mehrfach verwendete - und dabei nie erläuterte, offenbar aber nicht pejorativ gemeinte - Begriff der Pervertierung doch von missverständlicher Konnotation.

Da Nalkowska der Autorin zufolge, davon ausgeht, dass das "Postulat der Vermenschlichung" zu einer "Repressalie" werden kann, da es auf der "asketischen Vertreibung des Körpers und der weiblichen Sexualität" beruht, oder aber auf die "Überwindung des Frau-Seins durch Anpassung an männliche Normen" hinausläuft, und sie daher das "Programm der Vermenschlichung" als "'Gesetz des Vaters'", ja gar als "patriarchale[n] Entwurf" auffasst, verfolgt sie nicht etwa, wie verschiedene Feministinnen ihrer Zeit, eine Strategie der Übertretung von Geschlechtergrenzen sondern deren Gegenteil: eine "demonstrative und triumphale Affirmation der Weiblichkeit", die nicht danach strebt, es dem Manne gleich zu tun. "Der Mann kann ein erfülltes Leben führen, da in ihm ein Mann und ein Mensch zugleich lebt", schreibt sie am 5.11.1899 in ihr Tagebuch und fährt fort: "Für die Frau bleibt nur ein Bruchteil des Lebens übrig - sie muss entweder ein Mensch oder eine Frau sein."

Konzentrieren sich die Eintragungen in Nalkowskas Tagebuch zu Fragen der 'Weiblichkeit' und des Geschlechterverhältnisses insbesondere auf die Zeit um die Jahrhundertwende, so hält ihr Interesse an Fragen der Körperlichkeit und des Körpers über die Jahrzehnte hinweg ungebrochen an. "Entweder handelt es sich um den 'gemachten' Körper unter Kontrolle, besser oder schlechter gepflegt, ernährt und gekleidet, oder um den 'natürlichen' Körper außerhalb der Kontrolle: den kranken, schmerzenden, alternden", fasst Marszalek das Nalkowskas Tagebucheintragungen zum Körper zugrunde liegende dualistische Verständnis zusammen, das für die damalige Zeit höchst innovativ zwischen dem "Körper, der man ist" und dem "'natürlichen' Körper als den Körper, den man hat" unterscheidet. Trotz aller augenfälliger Differenzen fühlt sich die Autorin nicht zu Unrecht an Plessners später entwickelte Leib-Körper-Unterscheidung erinnert.

Ein drittes Thema, das Nalkowska schon früh beschäftigte und quälte, war ihr herannahendes Alter. "Ich schäme mich einfach schrecklich, alt zu sein", vertraute sie ihrem Tagebuch bereits im März 1925 an. Die Jugend, fuhr sie fort, sei kein "Zustand" sondern ein "Wert". Und das Alter sei "das Wegnehmen dieses Wertes von allem". Da war sie gerade mal 41 Jahre alt und hatte noch nahezu weitere dreißig Jahre stetigen 'Werteverlustes' vor sich. So schrecklich ihr das Alter aber erschien, so beugte sie sich ihm doch nie. Auch als sie im September 1953, wenige Monate vor ihrem Tod, konstatiert, dass sie "eine Greisin" sei und sich eingestehen müsse, "sehr davon berührt" zu sein, fügte sie sich nicht in dieses Schicksal. "Ich bin zugleich aber auch ich selbst", bäumte sie sich auf, "nicht gänzlich stecke ich in dieser Rolle".

Kein Bild

Magdalena Marszalek: "Das Leben und das Papier". Das autobiographische Projekt Zofia Nalkoskas.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2003.
187 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 393502553X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch