Der lyrische Melker

Neue Essays zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Günter Kunert

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Bevor Blätter und Häute welken/und was da blühte, erschlafft/gilt es die Tage zu melken/bis zum letzten Tropfen Saft", heißt es in Günter Kunerts letztem Gedichtband "Nachtvorstellung" in beinahe unverwechselbarem Tonfall - zwischen Melancholie und Hoffnung, zwischen Ernst und Humor changierend. Über fünfzig eigene Veröffentlichungen (Gedichte, Erzählungen, Romane, Hörspiele, Essays und Filmdrehbücher) liegen seit 1950 vor, als Kunert mit dem Lyrikband "Wegschilder und Mauerinschriften" debütierte.

Günter Kunert wuchs in Berlin als Sohn eines Kaufmanns und einer jüdischen Mutter auf. Es folgte - wie er es nannte - "eine staatlich verpfuschte Kindheit", in der ihm höhere Schulen aus ideologischen Gründen verwehrt blieben. Diese prägenden Kindheits- und Jugenderlebnisse sind in dem eindrucksvollen Erinnerungsband "Erwachsenenspiele" (1997) nachzulesen.

Nach dem Studium an der Ostberliner Hochschule für angewandte Kunst (1987 war in Düsseldorf eine Ausstellung mit seinen eindrucksvollen Zeichnungen zu sehen) widmete er sich früh der Literatur. Gefördert durch Bertolt Brecht und Johannes R. Becher, besuchte er gemeinsam mit Erich Loest und Heiner Müller die "staatliche Schreibschule" der DDR. Doch Kunert entpuppte sich schnell als politischer und literarischer Nonkonformist.

Der agitatorische Tonfall seiner frühen Gedichte war bereits Ende der 50er Jahre überwunden, und als er sich zehn Jahre später gar öffentlich für eine Auseinandersetzung mit Kafka, Joyce und Proust aussprach, blies ihm erstmals der ideologische Ostwind als steife Brise entgegen.

Nachdem Kunert 1976 die Resolution gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnet hatte, avancierte er zur Persona non grata in der DDR, die er 1979 unter dem Druck des Honecker-Regimes verließ. Seither lebt der Autor im kleinen Dorf Kaisborstel in der Nähe von Itzehoe, wo er heuer seinen 75. Geburtstag feiert.

"Meine Angst hat sich rapide verringert, aber meine Befürchtungen sind gewachsen", schrieb Kunert nach seiner Übersiedlung in den Westen. Immer waren seine Gedichte (fraglos seine literarische Stärke) von präzisen Beobachtungen, von einem minuziösen Sprachgestus und nicht selten von radikaler Zuspitzung geprägt. Wie etwa in dem frühen Text "Über einige Davongekommene", wo es heißt: "Als der Mensch/ unter den Trümmern/ seines/ bombardierten Hauses/ hervorgezogen wurde/ schüttelte er sich/ und sagte:/ nie wieder/ Jedenfalls nicht gleich".

Nie hat sich Kunert, der in der Vergangenheit u. a. mit dem Stadtschreiberpreis von Mainz, mit dem Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet wurde, in den Elfenbeinturm zurückgezogen. Ob in seinen Gedichten oder in seinen zahlreichen Essays: Kunert hat sich bewusst eingemischt, hat stets die Finger in offene Wunden gelegt.

Dies unterstreicht auch der aktuelle Band "Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast", in dem Kunert Reflexionen über seine eigene Schriftstellerexistenz anstellt ("Das Gedicht ist der letzte Ort der Wahrheit"), eine stille Hommage an seine schleswig-holsteinische Wahlheimat anstimmt und seinen Gedanken über Alltagsprobleme freien Lauf lässt. Eine Dreiteilung, die schon durch die Kapitelüberschriften ins Auge fällt: "Vom Schreiben", "vom Leben in Kaisborstel" und "Weltbetrachtungen".

Mit bitterer Ironie ("Besonders wirksam ist die plebiszitäre Ästhetik: Je mehr Leser, desto bedeutender das Werk") und analytischem Scharfsinn prangert der Jubilar die "Kulturverluste" an. Niemand wird ihm widersprechen, wenn er feststellt: "Immer mehr Bücher, mehr Museen, mehr Galerien, mehr Konzerte, aber [...] alles wird zu Unterhaltung, Ablenkung, Selbsttäuschung, Alibi."

Günter Kunert, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Nachkriegslyriker, "wohnt" aber immer noch da, wo er stets seinen Platz hatte. In seinem 1994 erschienenen Essayband "Baum, Stein, Beton" hat er diesen "Ort" genau beschrieben: "Zum Glück gibt es Heimat in einem abstrakten Zustand, der den Namen ,Kunst' trägt."

Titelbild

Günter Kunert: Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast. Aufzeichnungen.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
352 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446204601
ISBN-13: 9783446204607

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