Realität löscht die Fiktion aus

Frédérich Beigbeders Roman "Windows on the world"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Autor Fréderic Beigbeder ist ein bitterböser Zyniker, ein eitler Selbstinszenierer und trickreicher Versteckspieler, aber auch ein mutiger Tabubrecher. In seinem Erfolgsroman "39,90" (2001) rechnete er schonungslos mit der Branche ab, die ihm bis dahin ein sorgenfreies Leben in Wohlstand beschert hatte - mit der glitzernden, aber hemmungslos verlogenen und nur auf Profit basierenden Welt der Werbung.

Beigbeder avancierte beinahe über Nacht zum Popstar der französischen Literatur, weil er vehement an dem Ast gesägt hatte, auf dem er selber saß. Diese Attitüde der Selbstzerfleischung, der schonungslosen Offenheit, des Kredenzens der eigenen Seele auf dem "Silbertablett" des Lesers kennzeichnet auch sein neues Werk "Windows on the world".

Einen Roman über den 11. September 2001 zu schreiben, war wieder ein mutiges Unterfangen. Obwohl das Buch in Frankreich 300.000 Mal verkauft wurde, hat der Rowohlt Verlag das Manuskript abgelehnt. Fraglos gibt es eine Menge Gründe, die man aus moralischen Motiven gegen diesen Roman ins Felde führen könnte. Ein österreichischer Kritiker konstatierte beispielsweise eine "Störung der Totenruhe." Der Ullstein Verlag hat trotzdem zugegriffen.

Wenn die Realität in ihrer Grausamkeit jedoch alle Dimensionen der Imagination sprengt - oder wie es Beigbeder ausdrückt: die Realität löscht die Fiktion aus -, dann kann das Medium Kunst auch zum Verständnis der unfassbaren Wirklichkeit beitragen. Vor diesem Hintergrund hat der 39-jährige Schriftsteller seinen Roman arrangiert - auf zwei alternierenden Ebenen, mit einem Erzählstrang und umfangreichen, arg ausschweifenden Selbstreflexionen.

Der Immobilienmakler Carthew Yorston fährt am Morgen des 11. September mit seinen beiden Söhnen in das oberste Stockwerk des World Trade Center, um dort im Restaurant "Windows of the world" zu frühstücken. Seine letzten beiden Stunden hat Beigbeder fast im Minutentakt "imaginiert". "Manchmal ist Einbildungskraft der einzige Weg, um die Wahrheit herauszubekommen", erklärte der Autor sein unkonventionelles Projekt. Mehr als eine vage Annäherung, das weiß Beigbeder, kann ihm auf diese Weise nicht gelingen.

Doch er setzt mit einem simplen Kniff einen höchst interessanten Prozess des doppelten Erlebens in Gang, denn der im WTC mit seinen Kindern weilende Carthew Yorston und der reflektierende Frédéric Beigbeder sind Seelenverwandte, die mit identischer Stimme sprechen. Auf der einen Seite der geldbesessene, egoistische, von seinen Kindern getrennt lebende Makler, der den Kids im WTC einen unterhaltsamen Tag bescheren will und ihnen zunächst eine Actionstory vorspielt.

Yorstons überlebender "Zwilling", der Autor Beigbeder, berichtet uns auf der zweiten Ebene vom Entstehen dieses Buches, von seinen Ängsten, wenn er hoch über der Seine-Metropole im Restaurant "Ciel du Paris" sitzt und über seinen eigenen Zynismus, über den französischen Anti-Amerikanismus, das Versagen der antiautoritären Erziehung, das ambivalente Verhältnis zu seiner Tochter, die er (ähnlich Yorston) verlassen hat und seinen respektablen Reichtum sinniert. Diese quälenden Gedanken lässt er in den Satz "Ich bin ein Selbstverneiner" münden.

So kühl und funktional wie die Architektur der Twin Towers kommt auch Beigbeders Sprache daher. Komplexe Sachverhalte werden auf Formelstatus reduziert: "Es gibt Sekunden, die dauern länger als andere." Der langjährige Werbetexter scheint dem Schriftsteller immer noch die Feder zu führen.

So entsteht gewiss keine große Literatur, dennoch liefert dieses Buch eine gleichermaßen erschreckende wie authentische Erkenntnis. Sie lässt sich in Anlehnung an ein weltberühmtes Theaterstück von Thornton Wilder formulieren: "Wir sind noch einmal davongekommen". Aber dazugelernt, so Beigbeders Fazit (und da schließt er sich selbst ein), haben wir nichts. Ein kurzes Innehalten, eine spontane Bestürzung - und danach hielt der Alltag wieder Einzug. Hat uns Beigbeder nicht einen Spiegel vor das Gesicht gehalten?

Der terroristische Anschlag kostete 2801 Menschen das Leben, und weltweit sahen Millionen von Zuschauern live zu, wie der Nordturm der Twin Towers einstürzte. Die Katastrophe wurde zu einem gigantischen Medienspektakel. Sensationslust und Katastrophentourismus - auch das ist ein Teil des Zynismus des 21. Jahrhunderts, und den hat der Meisterzyniker Frédéric Beigbeder demaskiert. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Titelbild

Frédéric Beigbeder: Windows of the world. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Grosse.
Ullstein Verlag, Berlin 2004.
380 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3550084536

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