Geburt in Neapel

Erri De Lucas Roman "Ich bin da" knüpft am Neorealismus an

Von Andreas BaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Baumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Laufe eines Lebens wird die Zukunft immer mehr von der Erinnerung aufgesogen: Es wird gewesen sein. Es gibt Zeiten, in denen die Geschichte der politischen Emanzipation mit ihren verlorenen Kämpfen dazu verurteilt zu sein scheint, sich in einer solchen schicksalhaften Desillusionierung wiederzuerkennen. Allzu fern sind sie nicht. Für die Kinder andererseits scheinen die erlittenen Niederlagen nicht wie ein Ekel am Rande der Gegenwart zu liegen, sondern am Ursprung wachsender Stärke und Zukunft. So ist es jedenfalls in den Märchen.

Eine märchenhafte Erziehung des Herzens hat Erri De Luca mit seinem jüngst unter dem Titel "Ich bin da" ins Deutsche übersetzten Roman "Montedidio" geschrieben, seinem bislang vielleicht am stärksten optimistisch erzählenden Buch. Nicht, dass es den Romanen De Lucas an Zuversicht fehlen würde, aber während sie sonst aus dem Glühen seiner kargen Sprache, mit der das Vergangene in die Gegenwart kommt, erst zu entschlüsseln und zu reaktivieren ist, bestimmt sie hier direkt das mitgeteilte Geschehen.

"Ich bin da" verschränkt die Geschichte zweier Schicksale in der Kapitale Süditaliens und "letzten plebejischen Stadt" (Pasolini), im Neapel der letztvergangenen Sechziger Jahre, miteinander, eines erwachsenden und eines sich erfüllenden Schicksals: das des jungen Erzählers, der an seinem dreizehnten Geburtstag die Schule verlässt, um die Lehrzeit beim Tischlermeister Errico zu beginnen, und jenes des buckligen Schuhmachers Rafaniello. Don Rafaniello nennen ihn die armen Leute im Stadtviertel Montedidio achtungsvoll, wegen seines fabelhaften Geschicks und der Barmherzigkeit, mit der er sich um das Wohlergehen ihrer Füße kümmert. Dass er - aus einem Land im Norden gekommen und einem Angreifer entronnen, der sein Volk bei lebendigem Leibe verbrannt hat - auf dem Weg nach Jerusalem am neapolitanischen "Berg Gottes", Montedidio, gestrandet ist, auch das nimmt er noch mit einer alttestamentarischen Gottergebenheit auf sich, deren Preis man nur erahnen kann und die charakteristisch für die nüchterne Modulation dieses kurzen, jedoch vielstimmigen Romans ist: "Manchmal läutert Gott die Menschen eben mit einer Verarschung." Doch er weiß, dass er sein Ziel schließlich erreichen wird. Denn im Inneren seines Buckels wächst ein Paar starker Flügel heran. Sie sollen sich entfalten, so wie es der Engel prophezeit hat, der in Neapel auf ihn wartete.

Die Kriege, aus denen in De Lucas Romanen die Älteren zurückkehren, hinterlassen sie zerstört, jedoch mit einer hellseherischen Kraft begabt, sie kommunizieren mit den Geistern der Vernichteten und einer verschwundenen Welt. Im Miteinander der Figuren, in der Arbeit mit den Dingen - überall ist die Anwesenheit der Geister spürbar, aber ob ihr Ausdruck die Jüngeren erreichen wird, ist ungewiss. Daher braucht er eine starke Kraft, um sich unbegriffen halten zu können, bis er ein Medium gefunden hat. So auch hier. Wo der neapolitanische Dialekt und die Hochsprache aufeinandertreffen, entsteht dieses Medium zusammen mit der Signalkraft der Sprache des Romans. Sie signalisiert das Erwachen der Geister und das Ende der unschuldigen Abhängigkeit, die Liebe.

Maria, die gleichaltrige Nachbarin des Erzählers, steht bereits ganz auf der anderen Seite der Kindheit. Wohl deshalb, wie er sich voller Respekt erklärt, "weil sie eine Frau ist und erfahren hat was Abscheu ist". So etwas wie der Schatten der Camorra liegt schon auf der Ökonomie der kleinen Lebensverhältnisse, zeichnet sich ab etwa in der Abhängigkeit der Familie des Mädchens vom Wohlwollen des lüsternen, alten Hauswirts, zu dem sie geschickt wird, wenn er auf Zahlung der Mietschulden drängt. Unter diesen Bedingungen bleibt nicht viel Spielraum für die beiden Dreizehnjährigen, sich ihre Zuneigung romantisch auszulegen. Ihnen kommt sie vielmehr einem Bündnis gleich, einer "Kraft zu kämpfen".

Überhaupt verleiht De Luca dieser Geschichte eines steigenden Lebens eine gewisse methodische Organisiertheit; etwa wenn er sie als Tagebuchaufzeichnung des Jungen präsentiert, oder wenn er diesem einen Bumerang in die Hand gibt, ein fremdes Ding, an dem er seine wachsende Körperkraft prüft. Etwas sonderbar mögen diese Bumerangübungen des Erzählers anmuten. Sie sind jedoch im Grunde nicht unwahrscheinlicher als der Beginn seines Schreibens und wie dieses ein profanes Gegenstück zu dem Wunder, das der beschädigten Geschichte Rafaniellos widerfährt.

"Es gibt Schriftsteller, die alle möglichen Arten von Geschichten erzählen können. Das ist bei mir nicht der Fall. Mein Fall ist der eines Schriftstellers, der nur ganz wenige Geschichten erzählen kann, nur seine eigenen." Die eigenen Geschichten De Lucas, des gebürtigen Neapolitaners, speisen sich gleichwohl aus Erfahrungen, die er mit einer ganzen Generation politischen Lebens in Italien teilt: politischer Aktivismus in den Sechziger und Siebziger Jahren, im Falle De Lucas als Mitglied der autonomen Arbeiterorganisation Lotta Continua; mehr oder weniger gezwungener Rückzug vom Aktivismus in irgendein Exil, im Falle De Lucas, den seine Eltern eigentlich für die diplomatische Laufbahn vorgesehen hatten, als Lastwagenfahrer und Bauarbeiter in Afrika und Frankreich, bis er seine ersten Romane veröffentlicht.

Auch der Neorealismus, jene ursprünglich gegen die faschistische Kulturpolitik gerichtete, spezifisch italienische Tradition sozialkritischer Erzählkunst der Dreißiger und Vierziger Jahre, ist durch das Exil durchgegangen (denkt man an Carlo Levi oder Ignazio Silone). De Lucas Neapelroman knüpft an die neorealistische Tradition mit den Mitteln eines poetischen Realismus an - wenn es denn hier jemals eine Trennung gegeben hat. Für die Volkstümlichkeit des Neorealismus hieß nämlich, mit dem Auge des Volkes zu sehen, immer zugleich, die Gegenwart auch mit dem Glauben des Volkes zu deuten. Das Element des Wunderbaren verkörperte dabei unter anderem so etwas wie einen naturwüchsigen Widerstand gegen die Trostlosigkeit des - veristisch geschilderten - ärmlichen Lebens.

De Lucas Roman nimmt dieses Element auf, und er scheint damit die Forderung nach einer Neuerschaffung des Menschen in Erinnerung zu rufen, mit der der Neorealismus sich gegen Ende des Krieges gegen die völkische Mythologie des Faschismus auflehnte. Der Entschluss zu erzählen, von dem er berichtet, eröffnet wie ein Wunder einen Angriff auf das Schicksal und die Arbeit an einer anderen Geschichte, wobei die veristische Beschreibung der Dinge freilich, ohne sie zu unterschätzen, einen zurücktretenden Hintergrund bildet. Natürlich aus gutem Grund: Denn bereits am Ende der Vierziger Jahre - als die über die politischen Lager reichende antifaschistische Allianz der Resistenza in die Brüche gegangen war und damit das Vertrauen auf einen gemeinsamen politischen Willen, für die Beseitigung der elenden sozialen Verhältnisse (vor allem in Süditalien) zu sorgen - konnte sich eine engagierte Literatur nicht mehr auf die humanistisch neutrale Darstellung dieser Verhältnisse verlassen, wie sie noch in Cesare Paveses Losung von 1945 adressiert worden war: "Wir werden nicht unter das Volk gehen. Denn wir sind bereits das Volk [...] Wenn schon, dann gehen wir unter Menschen."

Der sich hier ausdrückende politische Wille ist ohne Zweifel längst dahin. Die Lebensverhältnisse hingegen sind (nicht nur im Mezzogiorno) sozialstaatlich befriedet und unter dem Regime der telecrazia und im Sinne ihrer Meinungsmehrheit repräsentabel geworden. Die Popularität der Literatur hat ihr immer schwindendes Terrain ganz an den Populismus des halbstaatlichen Medienrealismus verloren. Was eine realistische Literatur heute noch vermöchte, entscheidet sich an den Kräften, die sie mobilisieren kann, um ihr Hoheitsrecht dagegen zu behaupten.

Beiläufig und schemenhaft, aber dennoch hinreichend identifizierbar tauchen in diesem Roman hier zuweilen die historischen Ereignisse auf. Eines davon ist der Abbruch des neofaschistischen Parteitags in Genua im Sommer 1960, den die Arbeiter gemeinsam mit der studentischen Jugend erzwingen konnten. Es war die Begründung einer neuen antifaschistischen Allianz. Zwei Dekaden später, in den Paroxysmen der "bleiernen Jahre", deren Verlauf viele ihrer Protagonisten ins Exil, ins Gefängnis oder ins Grab gebracht hat, ist dieser politische Zyklus seinerseits an ein Ende gekommen.

Rafaniellos Flug wird am Ende durch die Arbeit des Erzählers möglich geworden sein. Wie die Geister, die das verkörpern, was fehlt, fragt auch dieses Wunder nach den noch ungeklärten Möglichkeiten der Geschichte. Nicht die gewonnen Kämpfe, allein die Erinnerung an sie erscheint unwahrscheinlich wie ein Märchen. Aber während die allseits Informierten sich über dessen Naivität belustigen, entlässt der Roman De Lucas den Ausdruck einer Kraft, die das Märchen der Unschuld beenden will. Damit weist er allemal über die gelassen pessimistische Ansicht hinaus, Jugend bezeichne heute keine Herausforderung der Reife mehr, sondern nur noch einen alle Generationen umfassenden Zustand kultureller Entropie.

Titelbild

Erri De Luca: Ich bin da. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
128 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 349803913X

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