Die Märchenprinzessin und andere Leidenschaften

Der dritte Roman von Arnon Grünberg lässt tief in die Schriftstellerseele blicken

Von Ann-Katrin KutznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ann-Katrin Kutzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Meine Konversation lebt von Beiläufigkeit und Überraschung", so Robert G. Mehlman, der Protagonist und Ich-Erzähler aus dem Roman "Phantomschmerz" des niederländischen Schriftstellers Arnon Grünberg. "Beiläufigkeit und Überraschung" sind Charakteristika des Schreibstils von Arnon Grünberg, dessen dritter Roman jetzt im Buchhandel erhältlich ist. Im Holland ist "Phantomschmerz" bereits vor drei Jahren erschienen und durchweg positiv, als ein witziges, amüsantes, temporeiches und feinfühliges Buch aufgenommen worden.

Grünberg, 1971 in Amsterdam geboren, lebt überwiegend in New York und gewann 2002 den Prosa-Literaturpreis des Landes NRW. Bereits mit seinem Debütroman von 1997 "Blauer Montag" konnte er die Kritiker für sich gewinnen, und auch sein zweiter Roman "Statisten" sorgte 1999 für Begeisterung. In den Folgejahren wurde es dann ruhiger um Grünberg, bis "Phantomschmerz" wieder Stoff für die kursierenden Vermutungen lieferte, dass Grünberg stets über sich selber schreibe. Grünberg alias Mehlman? Robert G. Mehlman ist Schriftsteller mit Schreibhemmungen und daraus folgenden Geldproblemen, denen er sich jedoch in keiner Weise stellt. "Schulden ticken wie Zeitbomben. [...] Doch schon bald gab ich so viel Geld aus, dass man nicht mehr dagegen anschreiben konnte."

Robert G. Mehlman hat einen Sohn, der dem Roman seine Rahmenhandlung gibt. Er ergreift als Ich-Erzähler am Anfang und am Ende des Romans das Wort, fügt dem ganzen somit eine weitere Perspektive und Dimension hinzu, und stellt auf den ersten wie den letzten Seiten einige Briefe vor, die ihm sein Vater überlassen hat. Der Hauptteil des Romans dreht sich um Leben und Streben des Vaters, den reisenden Schriftsteller Robert G. Mehlman. Diese Reisen sind eine Suche nach literarischem Stoff und Inspiration, eine Suche nach der eigenen Identität und eine Art Flucht vor der Vergangenheit und den Erinnerungen an glücklichere Tage mit seiner Frau, die er die Märchenprinzessin nennt.

Robert G. Mehlman reist, um sein Leben zu rekapitulieren, um neue Leben auszuprobieren, um sich selbst zu testen, im Zusammenspiel mit anderen, unbekannten Menschen. Seine Wesenszüge sind ebenso detailliert gezeichnet wie die der anderen Figuren des Romans. Die Frauen Mehlmans wie auch sein Sohn zeichnen sich durch individuelle, von Grünberg präzise, humorvoll und feinfühlig herausgearbeitete Eigenschaften aus. Da ist die Ehefrau Mehlmans, von Beruf Psychotherapeutin, von der er sich trennen will, wofür er 12 Jahre braucht. Dann ist da die Geliebte, Evelyn, und Rebecca, eine Freundin und Inspirationsquelle. "Vorgetäuschte Intimität, Intimität, die ohne Konsequenzen bleibt", das ist ein Gefühl, das Mehlman in Bezug auf Rebecca beschreibt. Doch eigentlich scheint es ihm, als sei sein ganzes Leben damit bezeichnet. Es geht also um Männer und Frauen, die nicht mit-, aber auch nicht ohne einander können. Die Auseinandersetzungen und Gespräche werden in "Phantomschmerz" auf die Spitze getrieben, man liest und lacht, und am Ende bleibt ein Hauch von Melancholie.

Worte kommen und gehen, Menschen kommen und gehen, Geld kommt und geht viel zu schnell. Doch "die Verhandlungen" mit der Märchenprinzessin, "wie wir aus dem Leben des anderen verschwinden sollten, waren noch nicht zum Abschluss gekommen", so Mehlman. Er erinnert sich tagtäglich an seine Frau, während er in nächtlichen Ausflügen mit einer anderen Muse in der Spielhalle seinen Schuldenberg immer höher wachsen lässt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. So cool ist dieser Protagonist und dabei so aufrichtig und ehrlich, zu anderen wie zu sich selbst: "Ich erhob das Lügen zur Kunstform", "Meine Küsse schmecken nach Apfelkaugummi, das ist das Geheimnis meines Glücks". Oder: "Schreiben war natürlich das Mittel par excellence, nicht leben zu müssen", "Funktionieren heißt so tun als ob". Und: "Bücher verkaufen ist Krieg. Meine Bücher verkaufen ist Atomkrieg", "Meine Ethik reduziert sich auf Wortwahl und Rhythmus, die Handlanger der Überzeugungskraft", "Sprache ist ein Gefängnis" Bezeichnend für den Schriftsteller: "Die Geschichte ist der Beweis meiner Existenz".

In einigen Rezensionen wurde diese Eigenart Mehlmans, mit Lebensweisheiten nur so um sich zu werfen, als "heitere Geschwätzigkeit" abgetan. Meines Erachtens gelingt es dem Roman gerade durch diese Sätze, die die Gefühlswelt Mehlmans vortrefflich beschreiben, den Leser für die Trockenheit, die Einfälle, Gedanken und die Wortakrobatik der Figur zu begeistern, und mit ihr mitleben und mitfühlen zu können. Außerdem ist Mehlman schließlich Schriftsteller. Ein verzweifelter, gefallener und wiederauferstandener Schriftsteller, der sich, wo er geht und steht, fortwährend mit Worten und ihrer möglichen Wirkung beschäftigt.

Sich selbst oft erniedrigend und Fremde zu oft bedrohend, befindet sich Mehlman in einer hochproblematischen Lebens-, Schaffens- und Beziehungskrise; seinen Frust ertränkt er im Alkohol. Doch so unvernünftig Mehlman ist, so stark und entschlossen ist er auch: Er sieht dem Schmerz in die Augen, er kämpft verzweifelt gegen seine Vergangenheit mit der Familie und die Erinnerungen an sie, er kämpft gegen das Vermissen an. Er ist nicht gewillt, alles dem Tod zu überlassen, er will seinen Nachruf unbedingt selber schreiben, er glaubt zu verstehen wie das Leben funktioniert, und trotzdem scheitert er.

Der Roman von Grünberg ist ein gelungenes Stück Literatur, und ihr Protagonist Mehlmann eine geniale, vielseitige, wortgewandte, trockene, witzige, rührende und liebenswerte Figur, so dass der Leser diesen mitreißenden Roman vom ersten bis zum letzten Satz nicht aus der Hand legen wird.

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Arnon Grünberg: Phantomschmerz. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Diogenes Verlag, Zürich 2003.
382 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 325786101X

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