Die Liebe hat viele Varianten!

Russische Liebesgeschichten aus zwei Jahrhunderten

Von Yvonne SonnetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Sonnet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"... Plötzlich Schneesturm überall

Mit den Flügeln pfeifend

Fliegt durch weißen Flockenfall

Fast den Schlitten streifend..."

Mit einem Gedicht beginnt Alexander Puschkins Geschichte "Der Schneesturm". Tatsächlich ist ein eisiger, die Sicht verwehender Schneesturm verantwortlich für das Schicksal der Protagonisten: Marja, ein Mädchen aus einer reichen Familie, möchte einen jungen Fähnrich, gegen den Willen ihrer Eltern, heimlich in einer kleinen Kapelle heiraten. Der gewaltige nächtliche Schneesturm treibt den Bräutigam aber in die Irre und lässt ihn zu spät an der Kapelle ankommen. Marja ist nicht mehr dort, die Hochzeit geplatzt. Jahre später verliebt Marja sich in einen scheinbar unbekannten Offizier. Ein unüberwindliches Hindernis scheint zwischen ihrem Bündnis zu stehen: Beide sind schon verheiratet, aber ohne ihren Ehepartner zu kennen! Erst jetzt erfährt der Leser, dass damals in der besagten stürmischen Nacht doch eine Hochzeit stattfand...

Aus zwölf Erzählungen besteht die Anthologie "Russische Liebesgeschichten". Puschkins "Der Schneesturm" aus dem Jahre 1830 ist die erste der nach den Erscheinungsjahren geordneten Erzählungen aus zwei Jahrhunderten russischer Literaturgeschichte. Olaf Irlenkäuser, ein in Hamburg lebender Verlagslektor, ist der Herausgeber. Sein Nachwort vermittelt dem Leser einen kleinen, aber interessanten Einblick in die Literaturgeschichte Russlands und erhält kurze Informationen zu den einzelnen Erzählungen.

Viktor Pelewin, ein in Russland bekannter und beliebter Autor, schrieb die 1995 erschienene Erzählung "Nike", die letzte in diesem Band. "Sie war sehr viel jünger als ich; das Schicksal hatte uns zusammengeführt..." So beginnt die lange, gedankenvolle und melancholische Beschreibung der Beziehung des Ich-Erzählers zu Nike. Erst zum Schluss wird eindeutig klar, dass die geheimnisvolle und exotische Nike keine Frau, sondern eine Siamkatze ist.

Die Erzählungen des Bandes sind in jeder Hinsicht vielfältig. Vor allem sind die Schreibstile sehr unterschiedlich. Das liegt zum einen sicherlich an den verschiedenen Autoren. Zum anderen ist die lange Zeitspanne, aus der die Geschichten stammen, deutlich spürbar. Obwohl das Hauptthema immer die Liebe ist, sind ihre Arten und Formen sehr heterogen. Nicht nur die Beziehung zwischen Mann und Frau, wie immer sie aussehen mag, wird vorgeführt. Auch die homosexuelle Liebe wird, in der Erzählung "Aljoscha - Serjosha" von Jewgeni Charitonow, thematisiert. Die einzige Erzählung, die von einer Frau geschrieben wurde, ist "Die liebe Schura" von Tatjana Tolstaja. Nur wenige Frauen konnten sich in der russischen Prosa etablieren. Anfang der achtziger Jahre dieses Jahrhunderts gab es allerdings eine regelrechte Welle der so genannten "Frauenprosa". Zu ihr gehört auch "Die liebe Schura". Hier lebt eine alte Dame in ihrer Vergangenheit, für die sich niemand interessiert, und erzählt von ihren zahlreichen Ehemännern wie von Wachsfiguren.

Einige Erzählungen in diesem Band, der auch Texte russischer Klassiker wie Anton Tschechow, Iwan Bunin und Boris Pasternak enthält, sind nicht ganz leicht zu lesen, doch die meisten bereiten ein unbeschwertes Lesevergnügen.

Titelbild

Olaf Irlenkäuser (Hg.): Russische Liebesgeschichten.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2003.
184 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3434545158

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