Hirtenjunge unter Löwen und Lämmern

Gavino Ledda's autobiographischer Roman "Padre Padrone"

Von Stefan FüllemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Füllemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gavino Ledda wurde 1938 auf der Insel Sardinien in dem kleinen Ort Siligo in eine kinderreichen Kleinbauernfamilie geboren. In seinem autobiographischen Bericht erzählt er seine Kindheit und Jugend, die er seit dem sechsten Lebensjahr, fast immer allein mit seinem Vater und dessen Schafherden, in der Einsamkeit des kargen Berglands seiner italienischen Heimat verbracht hatte.

Dort die kraftvollen Bilder der Natur Sardiniens, hier die Einsamkeit und Unterdrückung der dort lebenden Hirtenjungen Mitte des 20. Jahrhunderts. Was zählt, ist einzig und allein die Arbeit. Die Arbeit in der Landwirtschaft, als Bauer und Hirte. Nur vier Wochen lang besucht Gavino Ledda die Schule im Bergdorf Siligo, dann zerrt ihn sein Vater gewaltsam aus dem Klassenzimmer und zwingt ihn zum Hüten der Schafe. Statt Lesen und Schreiben lernt er die Einsamkeit und die Härte der körperlichen Arbeit kennen. Jegliches Streben nach Bildung wird kategorisch unterbunden. "Die Schule ist für die Reichen da, für die Löwen: Wir sind nur die Lämmer", so lautet das Credo seines Vaters. Die ersten Jahre sind unter der harten Führung des Vaters oft wie ein Martyrium. Schon bald hegt Gavino Ledda Fluchtgedanken, die zunächst aber scheitern.

Als Zwanzigjähriger gelingt ihm endlich die Flucht vor der übermächtigen Vatergestalt. Allerdings ist es nicht eine Flucht in die Freiheit, sondern in eine neue Abhängigkeit. Gavino Ledda der keine Schule besuchen durfte und kaum des Schreibens und Lesens mächtig ist, meldet sich freiwillig für die Unteroffizierslaufbahn bei der italienischen Armee. Es ist für ihn in der damaligen Zeit die einzige Möglichkeit, der Unterdrückung durch den Vater zu entkommen. Aber dessen Autorität wird ersetzt durch die Autorität und das Gefügigmachen der Armee. Von einem fast unstillbaren Wissensdurst ergriffen, verlässt Gavino Ledda jedoch, sobald es ihm möglich ist, dieses neue Zwangssystem, um seinen Bildungsweg autodidaktisch fortzuführen. Diesen Weg beschreibt er in seiner zweiten Autobiographie "Lingua di falce" zu Deutsch " Die Sprache der Sichel".

"Padre Padrone" ist sowohl ein Zeugnis des Widerstandes gegen die Unterdrückung von als unanfechtbar geltenden Autoritäten, aber auch eine Gesellschaftskritik. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts lag die Analphabetenrate auf Sardinien bei etwa 50 %. Ein Zeichen für das Wegschauen bei Kinderschicksalen und eine Verweigerung von Schulbildung und ein Problem nicht nur des Bergdorfes Siligo, sondern ganz Sardiniens, welches damals durch das frühzeitlich anmutenden Unterdrückungssystem der Hirten gekennzeichnet war.

Aber "Padre Padrone" ist mehr. Nämlich auch die Geschichte einer Befreiung aus einer Welt von Einsamkeit und Gewalt. Wo ein starker Wille ist, ist auch ein Weg. Deshalb können auch aus Lämmern auch Löwen werden.

Titelbild

Gavino Ledda: Padre Padrone. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Heinz Riedt.
dtv Verlag, München 2003.
288 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3423131217

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