Zwischen antisemitischen Klischees und bekennendem Philosemitismus

Thomas Manns ambivalente Beziehung zu Juden und Judentum

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie stand Thomas Mann zum Judentum? Diese Frage wurde erst in den letzten Jahren relevant, nachdem Literaturwissenschaftler, Germanisten und Wissenschaftler anderer Fachrichtungen erkannt hatten, welche Schwierigkeiten dem Dichter bereits in jungen Jahren seine Ichfindung bereitet hatte und dass dabei auch Juden in seinen existentiellen Bannkreis geraten waren. Als "Fremde" bedrohten sie zwar seinen Selbst-Entwurf, doch zugleich boten sie ihm auch als ihm ähnliche Außenseiter Gemeinschaft. Aber nicht nur das, Thomas Manns Werk wurde auch durch die Entwicklungslinien seiner Zeit geprägt, mitsamt der damals üblichen antisemitischen Stereotypen, die über heute nicht mehr gewusste Anspielungen funktionieren. Daraus erklärt sich eine gewisse Ambivalenz in der Beziehung Thomas Manns zum Judentum.

Mit diesem Thema befasste sich vor zwei Jahren auf einem Symposium in Berlin die Deutsche Thomas-Mann-Gesellschaft. Erfreulicherweise können nun auch Nichtmitglieder der Thomas-Mann-Gesellschaft die dort gehaltenen Vorträge und Diskussionen nachträglich mitverfolgen und nachvollziehen. Denn der seit kurzem vorliegende Tagungsband vermittelt ein ziemlich genaues Bild von Thomas Manns Ansichten über Juden und Judentum und zeigt, dass sein Gesamtwerk sowohl antijüdische Stereotype als auch philosemitische Stellen und Gestalten enthält. Was auffällt ist, dass Thomas Mann die "jüdische Frage" vielfach auf eigenem Terrain ausgetragen hat. Vieles von dem, was er an Juden ablehnte, hasste er an sich selbst. Manche Sonderleistung, die er als Außenseiter nötig hatte, sprach er aus gleichem Grund auch Juden zu. So kommt es zu einem ständigen Oszillieren zwischen den Polen "Bejahung" ("Ich bin Außenseiter wie die Juden") und "Abgrenzung" ("Ich bin als geborener Deutscher nicht so wie ihr"). Thomas Manns Scheu vor Eindeutigkeit hinderte ihn daran, sich endgültig festzulegen.

1907 schrieb er in "Die Lösung der Judenfrage", er sei "ein überzeugter und zweifelloser Philosemit und glaube steif und fest, dass ein Exodus, wie die Zionisten strenger Observanz ihn träumen, ungefähr das größte Unglück bedeuten würde, das unserem Europa zustoßen könnte." Aber wenige Zeilen später spricht er von der "zweifellos entarteten und im Ghetto verelendesten Rasse" und fügt in einem gönnerhaften Ton hinzu: "Es besteht schlechterdings keine Notwendigkeit, dass der Jude immer einen Fettbuckel, krumme Beine und rote mauschelnde Hände behalte, ein leidvoll unverschämtes Wesen zur Schau trage und im ganzen einen fremdartig schmierigen Aspekt gewähre. Im Gegenteil sei dieser Typus des Juden, wie er im Buche steht, eigentlich schon recht selten geworden, und unter dem wirtschaftlich bevorzugten Judentum gibt es heute schon junge Leute, die doch einen Grad von Wohlgeratenheit, Eleganz, Appetitlichkeit und Körperkultur darstellen, der jedem germanischen Mägdlein oder Jüngling den Gedanken einer ,Mischehe' recht leidlich erscheinen lassen muss."

Nach eigenem Selbstverständnis meinte der Dichter es durchaus gut mit Juden, gleichwohl beschrieb er sie immer wieder mit Hilfe der krassesten antisemitischen Stereotypen. Bis zum Holocaust fand er gerade nicht assimilierte Juden genauso unmöglich wie Männer, die offen homosexuell lebten.

Dieser Grundspannung widmet sich gleich im ersten Beitrag der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering. Juden, Frauen, Homosexuelle, Literaten und Bohémiens, so legt Detering dar, präsentierten sich in den frühen Texten von Thomas Mann als gleichermaßen stigmatisierte Gruppen, denen sich der Dichter entweder verwandt oder zugehörig fühlte und mit deren Angehörigen er Stolz und Scham, Sicherheit und Selbstzweifel gemeinsam hatte. So reichte Manns Philosemitismus, meint Detering, bis an die Grenzen seiner Selbstliebe und seines Stolzes, während sein Antisemitismus auch der Reflex seines Selbsthasses und seiner Scham gewesen sei, wobei er ständig im Widerspruch von Bekenntnisdrang und Entblößungsangst hin und her gependelt sei. Auf seine Weise sei er Jude gewesen und habe das Jüdischsein zu einer geistigen Lebensform gemacht, genau so weit, wie er sich selbst liebte oder hasste. Von seiner eigenen Außenseitererfahrung habe er sich die Außenseitererfahrung stigmatisierter Juden erschlossen, ohne diese als die "Anderen" wirklich zu verstehen.

Hans Rudolf Vaget liest die Novelle "Wälsungenblut" (sie handelt von einer sich anbahnenden "Mischehe") als Dokument jüdischer Ausgrenzung und deutet den hier geschilderten Inzest des jüdischen Geschwisterpaares als Protest gegen den Assimilationsdruck. Da Thomas Mann sein Literatentum als "jüdisch" verstand, nannte er diese Erzählung gelegentlich seine "Judengeschichte". Diese Einstellung änderte er erst im Exil, weil ihm inzwischen, um 1948, bewusst geworden war, dass die Geschichte leicht in einem antisemitischen Sinn missverstanden und missbraucht werden könnte, da in ihr mit stereotypen Vorstellungen operiert wird, die dem Arsenal des Antisemitismus entstammen. Vieles ist in der Vorstellung einer fundamentalen Andersartigkeit und Fremdheit der Aarenholds verankert, die, laut Vaget, "letztlich rassisch begründet ist." Nicht von ungefähr charakterisierte Ruth Klüger die Novelle als einen "nicht sehr feinsinnigen Text".

Andererseits schildert der Dichter in dieser um 1905 entstandenen Novelle auch die jüdische Innenansicht samt Verachtung für den nicht-jüdischen Brautwerber und richtet ein erhebliches Verwirrspiel mit Stereotypen an, das in seiner besonderen Lesart Vaget fein herausfiltert. Denn nur mit einer gewissen interpretatorischen Anstrengung ist aus dieser Geschichte herauszulesen, dass sich Mann als Freund der Juden betrachtet und den Weg der Assimilation für den richtigen gehalten hat.

Um die Zeit, als "Wälsungenblut" entstand, hatte sich Thomas Mann, der ein asketisch homoerotisch empfindender Künstler war, entschieden, seine Existenz auf das bürgerliche Fundament von Ehe und Familie zu stellen. Hätte Thomas Mann seine homosexuelle Veranlagung ausgelebt, hätte er es im Beruf des Schriftstellers im wilhelminischen Deutschland wohl schwerlich weit bringen können. Die Tochter aus begüterter Münchner Familie versprach dagegen eine bessere Zukunft. Außerdem waren die reichen Pringsheim Juden und konnten sich, nach damaligem Verständnis und wahrscheinlich auch nach dem Empfinden von Thomas Mann, im Grunde durch die Heirat ihrer Tochter mit einem Nichtjuden nur geehrt fühlen.

Als homosexueller Schriftsteller hatte er sich anfangs mit Juden identifiziert. Nun stößt er diese Identifikation wieder ab durch seine Heirat mit Katia aus der jüdischen Familie Pringsheim. Die Geschichte "Wälsungenblut" sei somit ein wichtiges Zeugnis seiner eigenen Lebensentscheidung, glaubt Vaget.

In einem Brief an Heinrich Mann von 1904 wird, wie aus Originaltexten von Thomas Mann hervorgeht, die Thomas Klugkist seinem Aufsatz angehängt hat, die Familie Pringsheim mit bewundernden Worten beschrieben. Der Brief endet mit "Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur." In seinem Notizbuch bezeichnet Thomas Mann im selben Jahr seine zukünftige Frau als "dies fremdartige, gütige und doch egoistische höfliche kleine Judenmädchen!" Als die Tochter Erika geboren wird, glaubt er, "ein klein bisschen Judenthum durchblicken zu sehen, was mich jedes Mal sehr heiter stimmt."

In einem weiteren Beitrag geht Stefan Breuer auf die Mitwirkung der Brüder Heinrich und Thomas Mann an den letzten beiden Jahrgängen der antisemitischen Zeitschrift "Das Zwanzigste Jahrhundert"(1895-96) ein und leitet daraus ab, dass auch die Brüder Mann zu dieser Zeit Judenfeinde gewesen seien.

Anat Feinberg wiederum stellt die Rezeption der Werke Thomas Manns in Israel vor und kommt dabei zu dem Fazit: Die aus Europa eingewanderten Juden, die die erste Phase der Rezeptionsgeschichte der Werke Manns in Israel prägten, sind im Aussterben begriffen. Für die nächste Generation hingegen ist die europäische Literatur und damit auch Manns Werke kein portatives Vaterland. Die Zukunft Thomas Manns in Israel bleibt daher offen, zumal die israelische Leserschaft mehr als je zuvor von Europa weit entfernt zu sein scheint.

Während der Germanist Yahya Elsaghe (Bern), ausgehend von der lange Zeit üblichen Meinung, dass der jüdische Körper sich nicht zuletzt durch die Schrift verrate, dezidiert nachweist, wie raffiniert Mann seine jüdischen Figuren literarisch herabsetzt, beschäftigt sich Manfred Dierks mit Thomas Mann und der "jüdischen" Psychoanalyse. Immerhin erzählen beide - Thomas Mann in "Der Zauberberg" - die grundsätzliche Geschichte von verdrängter Sexualität und der bedrohlichen Wiederkehr des Verdrängten.

Ruprecht Wimmer sieht in Thomas Manns Roman "Dr. Faustus" ein Bekenntnis des Künstlers, mit dem er eine deutsch-jüdische Gemeinschaft propagiert und auf seine ganz persönliche Weise Hoffnungen auf einen deutsch-jüdischen Neuanfang nach dem Holocaust ausgedrückt habe, wobei er allerdings den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden fast ganz aussparte.

In "Königliche Hoheit" entwarf Mann, wie Hans Rudolf Vaget anmerkt, eine schätzenswerte jüdische Figur. Allerdings sei diese die einzige vorbehaltlos positive Gestaltung des modernen Judentums in seinem Oeuvre gewesen. Die "Buddenbrooks", die "Joseph-Romane", "Der Zauberberg" und andere Texte werden ebenfalls mehr oder weniger genau unter die Lupe genommen.

Nicht unterschlagen werden darf, dass zu Thomas Manns persönlichen Erfahrungen verbissene Fehden mit Juden zählten, etwa mit Alfred Kerr und Theodor Lessing. Andererseits hat er aber auch stets dankbar anerkannt, dass ihn Juden propagiert und gefördert haben. Mit nicht wenigen war er sogar befreundet.

Nach 1933 erwies sich der Dichter dann als ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus und wurde zur Stimme eines "besseren Deutschland". Obwohl sich Thomas Mann schon Anfang der zwanziger Jahren, nach den ersten, noch verbalen Übergriffen der Nazis verstärkt für die Anerkennung der diskriminierten jüdischen Minderheit einsetzte, habe er, schreibt Thomas Klugkist, bis in seine letzten Lebensjahre hinein antisemitischen Vorstellungen privat und öffentlich Raum gegeben. Stereotypen gehörten mithin weiterhin zu Thomas Manns wichtigstem Handwerkzeug. Seine Haltung war nicht immer eindeutig, gleichwohl hat Thomas Mann im Laufe seines Lebens eine gewisse Entwicklung durchgemacht, wie die von Klugkist eingefügte Textauswahl aus seinen Werken anschaulich belegt.

Auch andere Autoren haben, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung der judenfeindlichen Äußerungen des Dichters, die Subtexte seiner Werke subtil abgeklopft und kompetent herausgearbeitet. Viele Leser, insbesondere die Kenner der Werke von Thomas Mann, dürften es ihnen zu danken wissen.

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Manfred Dierks / Ruprecht Wimmer (Hg.): Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2004.
221 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3465033027

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