Archetypische Erkenntnis gegen den theoretischen Wahn
Hans Dieckmanns Einführung in die Traumdeutung C. G. Jungs
Von Hermine Wehr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Strenge der psychologischen Forschungen Sigmund Freuds ist unter anderem auf seine Leidenschaft als Gelehrter zurückzuführen. Damals wie heute trägt sein Werk den Ruf, Träume mit einer peinlichen Genauigkeit der Analyse zu erforschen. Auf der Suche nach dem Ursprung psychischer Krankheiten, die sich im Traum verschlüsselt zeigen, wendet er sich ohne Abweichung der sexuellen Pathologie zu. Carl Gustav Jung, der einer seiner Schüler war und später zu seinem größten Konkurrenten werden sollte, richtet sich gegen die erbitterte Konsequenz, mit der Freud seine Studien betreibt. So gibt die Jung'sche Methode der Traumdeutung die lineare Beschreibungen psychologischer Prozesse preis, ohne sich jedoch des Anspruchs auf absolute Wahrheit zu bescheiden.
Der Berliner Arzt und Psychologe Hans Dieckmann nimmt einige Jahrzehnte später Rekurs auf Jung. Seine Abhandlung "Träume als Sprache der Seele" soll sowohl in die Traumdeutung Jungs einführen, als auch deren aktuelle Relevanz untermauern. Die damaligen Forschungsergebnisse und Therapiemethoden werden allerdings auf die heutige Zeit übertragen, als hätte es in der Geschichte der Psychologie keine Invasionen gegeben. Der Autor ist ein überzeugter Vertreter der mythologischen Traumdeutung, die auf der Annahme beruht, dass es vorgegebene psychische Grundmuster gibt, die bei jedem Menschen sind. Der Deutungsvorgang an sich erfolgt dann durch die Herstellung von Ähnlichkeitsrelationen zwischen dem Traum und schriftlich konservierten Mythen. Die Bedeutung der infrage kommenden und referierten Texte kreist hierbei stets um die Typologisierung von Charakteren, die als eine Art Präfiguration für die Wirklichkeit angesehen werden. Es wird dabei mit apriorischen Kategorien gearbeitet, die ein schwer entwirrbares Netz aus transzendenten und kollektiven Richtlinien bilden. Festzuhalten ist, dass die Analyse der Träume auf zwei Ebenen praktiziert wird, denen jeweils eine subjektive und eine objektive Ordnungsinstanz zugeschrieben wird.
Nach dem Motto "Wissen dient nicht dem Verstehen, sondern dem Zerschneiden" (Michel Foucault) zeichnet sich die Grenzlinie zwischen Realität und Transzendenz auf dem inhaltlichen Bedeutungshorizont von Text- und Traumsymbol ab. Auf dieser Grundlage entwirft Dieckmann eine Art Slogan für die allgemeine Verbindlichkeit der Traum- und Textsymbolik und weist darauf hin, dass kulturelle Unterschiede kaum eine Rolle für die Lesbarkeit von Träumen spielen. Sofern der Sinn der 'Seelensprache der Träume' nicht als schlichte Auslosung verstanden werden möchte, wirkt sich eine gewisse Affinität zu Religiosität oder Esoterik vermutlich positiv aus.
Von diesen subtilen Dilemmastrukturen abgesehen, wächst das Traumverständnis proportional mit den literarischen Kenntnissen des Analysanden und Therapeuten. Auf diese Art und Weise tragen die anderenorts diskreditierten kulturellen Belange zur Verbesserung psychischer Heilungsprozesse bei. Eine Verwandtschaft zur Texthermeneutik besteht im Unterschied zur Freudschen Traumdeutungsmethode dennoch nicht. Indessen wird die Brücke zwischen Traum und Mythos mit Hilfe der Amplifikation hergestellt. Dem Duden zufolge wird "der Trauminhalt durch Vergleich mit Bildern der Mythologie, Religion, u.s.w., die in sinnverwandter Beziehung zum Trauminhalt stehen, erweitert." Von einer methodisch kontrollierten Vorgehensweise kann insofern nicht gesprochen werden, da die Spontanität, mit der die Amplifikation vonstatten geht, auch retrospektiv ihren unwillkürlichen Charakter beibehält. Ihr Sinn vermag, wie Dieckmann meint, den universalen Charakter der individuellen Traumphänomene ans Licht zu befördern. Potentiell verbirgt sich an dieser Stelle ein psychologischer Effekt: Nimmt der Träumer das Angebot an, sich mit den herangezogenen fiktionalen Figuren zu identifizieren, erfolgt eine Befreiung aus seiner Isolation, die letztlich zu einer Besserung seines Zustandes führt. Ein völlig abstrakt gedachter 'locus veritatis? als Ort psychischer Genesung erscheint aus wissenschaftlicher Perspektive dennoch zweifelhaft.
Dieckmanns Traumschilderungen und Deutungsvorschläge tragen teils einen ziemlich pathetischen Duktus, der bei genauerer Betrachtung eine tief internalisierte Gespaltenheit zwischen Vernunft und Sinnlichkeit entlarvt. Die Überbetonung intuitiver psychologischer Erkenntnisvorgänge spricht für eine starke Abneigung gegen kausallogische Prinzipien. Man muss nicht die langsame Kurve einer Entwicklung nachzeichnen, um hier nietzscheanische Rahmenbedingungen aufzuspüren. Der Autor äußert seine geistige Verwandtschaft zu Friedrich Nietzsche auch explizit, obschon die Anwendung dieser Kategorien für die moderne Forschung nicht tragbar sein dürften. Michel Foucault nennt sie in "Subversion des Wissens" die "Kategorien der Ausgabe, des Exzesses, der Grenze der Überschreitung [...], die verbrauchen und verzehren."
Insgesamt schwächt der Mangel an historisierenden Aspekten die Überzeugungskraft der Abhandlung. Besonders die Wiederholung oppositioneller Diskursbedingungen, die durch Freud und dem philosophischen Rationalismus auf der einen Seite, sowie Jung und der nietzscheanischen Philosophie auf der anderen Seite vertreten werden, erscheint problematisch. Ungeachtet moderner Kenntnisse enthält "Träume als Sprache der Seele" nur ein Minimum an psychologischen Informationen aus Forschungsgebieten, die mit messbaren Ergebnissen rangieren. Die Ignorierung traumspezifischer Wissenschaftsbereiche - als Beispiel sei hier die Hirnforschung genannt -, die den modernen Traumdiskurs stark prägen, ist besonders im Rahmen der heutigen Pluralität infrage zu stellen.