Mythos und Traum

Verena Kast über einen plausiblen Zusammenhang von Jungscher Archetypik und Symbol-Armut

Von Helmut KaffenbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Kaffenberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Mythen, sagt Verena Kast, seien trotz der Aufklärung nie verschwunden. Die Verfasserin assoziiert, sich auf Blumenberg berufend, zum Begriff des Mythischen den der Vertrautheit. Vertrauen schaffen, das sei die Aufgabe des Mythos. Ganz nebenbei erklärt sie die Jung'sche Archetypenlehre und kommt zu dem Schluss, dass sich das Mythische - oft unerkannt - im Alltäglichen wiederfinde, in die Alltagskultur eingeflossen sei, sei es im Comic, seien es Hollywood-Filme.

Das vorliegende Bändchen des Picus Verlags basiert auf einem Vortrag aus dem Jahr 1999. Die beiden kurzen vorgeschalteten Texte erklären den Rahmen, in dem der Vortrag gehalten wurde, die Wiener Vorlesungen im Rathaus, und sagen etwas zur 'Psychotherapiestadt Wien' - mit einem Rückblick auf zahlreiche bekannte Namen.

Dann folgt der Text des 'umfassend erweiterten' Vortrags, der die Aufgabe der Psychotherapie bestimmt, nämlich mit der Archetypenlehre C. G. Jungs Überlegungen in die gesellschaftliche Diskussion zu bringen, die dem kollektiven Bewusstsein am meisten fehlen.

Kast glaubt, dass es irrelevant sei, ob man den Mythos heute als rational oder irrational begreife, wichtig sei, was er uns noch zu sagen habe. Die wissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit sei eine Möglichkeit der Wirklichkeitserfassung, die mythische eine andere: "Der Mythos, in Bildern verdichtet, macht Krisen und Hoffnungen sinnfälliger als der verbale Diskurs, bewegt die Emotionen und wirkt oft in Situationen einleuchtend, in denen der kritische Diskurs versagt. Das ist sein Vorteil und seine Gefahr."

Die Verfasserin vertritt die Ansicht, dass Mythen oder Märchen Orientierungshilfen sein können, Erzählungen, die uns helfen zu leben. Ihnen kann man versuchsweise das eigene Leben anvertrauen. Zwar müsse man dennoch die "Verantwortung" - ein zweiter Schlüsselbegriff - für sein Leben übernehmen, aber man werde angeregt und könne Symbole als Ausdrucksformen der Emotionen begreifen, mit denen dann zu arbeiten wäre. Mythos und Märchen, besonders Weltentstehungsmythen, machten Mut zum Leben, weil sie deutlich werden ließen, dass Neuwerdung immer wieder möglich sei. Zwar könne der dogmatische Aspekt des Mythos gefährlich sein (auch kritisiert sie durchaus C. G. Jung selbst), deshalb sei aber darauf zu achten, dass man nicht in Regression verfalle, sondern die Verantwortung für das eigene Leben übernähme.

Dargestellt wird von Kast "Die Aktualität des Mythos", aufgeworfen wird die Frage nach dem kulturanthropologischen Zusammenhang der Suche nach dem Mythos heute, erörtert wird der Begriff des Mythos, erläutert die tiefenpsychologische Sichtweise und der Aspekt des Mythischen als Orientierungshilfe. Auch die Kritik am Umgang mit Mythen, unter wissenschaftlichen ebenso wie unter nicht-wissenschaftlichen Auspizien, wird keineswegs ausgespart. Und abschließend fahndet Karst nach gemeinsamen Mythen, fragt, ob Träume helfen können - und wenn ja, wie. Das Abschlusskapitel heißt "Mythen am Übergang".

Kast geht auf die Dialektik der Aufklärung ein, was eine Kritik der grassierenden Wissenschaftsgläubigkeit einschließt - die Wissenschaft selbst sei zu einem Mythos geworden. Dem hält sie entgegen, dass der Mensch ein mythisches "Bedürfnis" habe - ein weiterer Schlüsselbegriff ihres Vortrags.

Was die neuen Medien an Mythischem präsentierten, würde unterschwellige Botschaften transportieren wie das Leben gelebt werden solle, dafür jedoch übernehme niemand die Verantwortung. Insofern lebe man dem zufolge nach mythologischen Kategorien, aber es sei nicht das eigene Leben. Es gebe keine gemeinschaftliche Mythologie mehr, was gut so sein mag, aber das mache es notwendig, eine eigene zu entwerfen. Dies soll mit Hilfe von Träumen geschehen.

Verena Kast studierte Psychologie, Philosophie und Literatur, promovierte in Jungscher Psychologie und ist heute Professorin für Psychologie an der Universität Zürich. Als Dozentin und Lehranalytikerin am C. G.-Jung-Institut verfügt sie über eine breite psychotherapeutische Praxis. Als langjährige Präsidentin der Schweizer Gesellschaft für Analytische Psychologie, als Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie und - seit 1995 - als Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie ist sie nicht nur in Europa und den USA bekannt. Ihre Vortragstätigkeit und ihre zahlreichen Bücher, vorwiegend zu den Themen Trauer, Emotion, Beziehungen und Symbolik, sind in viele Sprachen übersetzt.

Kast sieht Traum, Mythos und Wirklichkeit als miteinander kommunizierende Wirklichkeiten. Den Traum beurteilt sie, kongenial mit Jung, nicht nur als individuelles Erlebnis, die Träume würden zwischen einem Ich und einem Du geträumt, zudem gebe es eine Verbindung des individuellen Traums zu den Archetypen. Es gebe Träume, die Alltagserfahrungen verarbeiteten, aber auch solche, "die in ein archetypisches Feld hineingehören und die meistens nicht nur einen diagnostischen Aspekt, sondern auch einen richtungsweisenden Aspekt haben für die eigene Existenz, was wiederum als Sinnerfahrung erlebt werden kann". Der Traum sei nach Campbell ein "verpersönlichter Mythos", er verbinde mit der eigenen Lebensgeschichte ebenso wie "mit dem Menschsein ganz allgemein". Träume könnten in eine bestimmte Richtung weisen und zur Auseinandersetzung mit neuen Optionen anregen. Wie der Mythos habe auch der Traum seine eigene Wirklichkeit, die mit der Alltagswirklichkeit in Interaktion stünde.

So kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die Symbol-Armut des westlichen Menschen gar nicht so groß ist, sondern dass die Symbole vielleicht nur bewusster wahrgenommen werden müssen. Sie fordert, diese nicht als überflüssigen Rest zu sehen, sondern als wesentlichen Aspekt des Menschseins anzunehmen und zitiert Habermas: "Die Aufklärung hat eines nicht vermocht, das Bedürfnis nach Trost zu stillen oder zum Versiegen zu bringen."

Titelbild

Verena Kast: Mythos, Traum, Realität.
Picus Verlag, Wien 2000.
64 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3854523742

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