Die Vertreibung aus dem Jenseits

Die erste Gesamtlieferung randständiger Texte Deleuzes überzeugt

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gab eine Zeit, da schien Suhrkamp regelrecht - trotz vorausliegender Erfolge - die Texte von Gilles Deleuze und seinem Mitautor Félix Guattari zu boykottieren. Es war in dieser Zeit, als die Besitzer des Westberliner Merve Verlags ihre gesamten Ersparnisse, so will es die Legende, für die Rechte, die Übersetzung und den Druck der "Tausend Plateaus" aufwandten, die 1980 erschienen. Doch nicht nur die Bibel des französischen Poststrukturalismus, auch viele kleine Schriften Deleuzes und Guattaris wurden dem deutschen Publikum von Merve zugänglich gemacht.

Seit in Frankreich das gesamte Begleitwerk Foucaults vorgelegt wird, d. h. die von ihm autorisierten Aufsätze und Interviews in vier Bänden (wovon die Übersetzung des letzten Bandes hierzulande noch aussteht), beginnt David Lapoujade - in Frankreich bekannt für seine Neubewertung der Anfänge des amerikanischen Pragmatismus -, Gleiches mit Deleuze zu tun. Und schon ein Jahr später legt Suhrkamp, seit den späten 80er Jahren wieder von Deleuze überzeugt, die deutsche Fassung des ersten Bandes in der Übertragung durch die für ihre Übersetzung von Lévi-Strauss' "Traurigen Tropen" preisgekrönte Übersetzerin Eva Moldenhauer vor. Der Band umfasst den Zeitraum von 1953 bis 1974. Der zweite Band wird die Jahre 1975 bis zum Freitod Deleuzes 1995 umfassen.

Beide Jahreszahlen der ersten Periode bilden wichtige Eckdaten im Werk von Deleuze: Texte vor 1953 sind vom Autor nicht autorisiert worden. (Dies trifft auch für seinen Nachlass zu, der ähnlich dem Foucaults unter Verschluss bleibt bzw. von dem nur Vorlesungsnachschriften erscheinen; die Foucaults bei Suhrkamp, die Deleuzes kostenlos im Netz.) 1974 erscheint der erste Text in der Doppelautorschaft von Deleuze und Guattari, der das Denken nach dem Anti-Ödipus, nach dem Kampf mit der Psychiatrie- und Psychologisierungswelle der 60er Jahre einläutet: "Wie verschafft man sich einen organlosen Körper?" Alles bis zu diesem Einschnitt liegt nun versammelt vor. Weggelassen sind all jene Interviews und Texte, die bereits in den Sammelbänden "Unterhandlungen" sowie zuletzt in "Kritik und Klinik" oder als Anhänge zu "Logik des Sinns" erschienen sind.

Dieser erste Abschnitt ist die Phase der philosophischen Portraits zu Hume, Spinoza, Lukrez, Nietzsche, Bergson und anderen sowie seines Entwurfes einer neuen Ontologie auf Basis von Empirismus, Transzendental- und Lebensphilosophie - und der Beginn der Freundschaft von Deleuze und Guattari. Besonders wertvoll machen den vorliegenden Band nicht nur die ansonsten an entlegenen Orten verstreuten Übersetzungen von Aufsätzen, welche wichtige Fundamente der bisherigen Deleuze-Rezeption abgaben. Die drei wichtigsten von ihnen stammen allesamt aus dem Jahr 1972: der Vortrag "Nomaden-Denken" vom Nietzsche-Kolloquium in Cerisy-la-Salle und die beiden Beiträge zum wissenschaftshistorisch ausgerichteten Lexikon des Freundes Châtelet, "Woran erkennt man den Strukturalismus?" und "Hume", der viel präziser noch als die Monographie zu Hume Deleuzes besonderes Interesse am Empirismus herausstellt. Deleuzes Definition des Strukturalismus anhand seiner formalen Kriterien bietet nicht nur eine eigenwillige und sehr dichte Beschreibung der Bewegung, sondern den mithin besten theoretischen Aufsatz zum Thema überhaupt.

Die Überraschungen des vorliegenden Bandes sind aber die bisher noch nicht auf Deutsch erhältlichen Texte: Dazu gehören frühe Rezensionen und vor allem viele Artikel über Bergson, der unter allen Philosophen für Deleuze der prägende blieb. - Beim Lesen der Texte kann man feststellen, wie früh sich der spätere Denkweg doch abzuzeichnen beginnt. Es gibt nur wenige Motive der 80er und 90er Jahre, die bei Deleuze nicht schon in den 50ern, 60ern und 70ern präfiguriert sind.

Der Eröffnungstext über die "Ursachen und Gründe der einsamen Insel", der auch dem ganzen Band seinen Titel verleiht, ist ein bisher unveröffentlichtes Manuskript aus den frühen 50er Jahren, das Deleuze in Ordnung seines Nachlasses aber unter "Publikationen" rubriziert hatte, weshalb er nun ins Licht der Öffentlichkeit gelangte. "Die einsame Insel" ist inspiriert von der Anti-Robinsonade "Suzanne und der Pazifik" von Jean Giraudoux. Ähnlich Deleuzes Text "Michel Tournier und die Welt ohne anderen" (von 1967, abgedruckt in "Logik des Sinns") zu Tourniers Roman "Freitag oder Im Schoß des Pazifiks" geht es ihm hier darum zu zeigen, wie Defoes Robinson das Inselleben nach dem Vorbild der bürgerlichen Gesellschaft aufbaut: "Ein langweiligerer Roman ist kaum vorstellbar; traurig mit anzusehen, daß Kinder ihn noch immer lesen. Robinsons Weltanschauung beruht ausschließlich auf dem Eigentum, noch nie hat man einen derart moralisierenden Eigentümer gesehen. Alles wird aus dem Schiff geholt, nichts wird erfunden, alles wird mühselig auf die Insel angewandt. Die Zeit ist lediglich die Zeit, die das Kapital braucht, um an Ende einer Arbeit Gewinn abzuwerfen. Und die unerhoffte Funktion Gottes besteht darin, den Ertrag zu garantieren. Gott erkennt die Seinen, die ehrbaren Leute daran, daß sie schöne Besitzungen, die Bösen daran, daß sie schlecht ungepflegte Besitzungen haben. Robinsons Gefährte ist nicht Eva, sondern Freitag, arbeitswillig, glücklich Sklave zu sein, allzu schnell der Menschenfresserei überdrüssig. Jeder gesunde Leser träumt wohl davon, daß er endlich Robinson frisst. Dieser Roman ist die beste Veranschaulichung der These, die den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Protestantismus behauptet."

Während Tourniers Roman die Südsee dagegen in ihrer vollen Grausamkeit, die Natur als wildes Sein zeigt, wird bei Giraudoux die Insel zum Luxusgegenstand, der Suzanne alles gibt, was sie zum Leben braucht. Während Dafoe den Mythos zerstörte, wird er von Giraudoux auf zweiter Ebene neu erschaffen. Der Ursprung, so lässt uns Deleuze immer wieder wissen, ist nur in der Wiederholung und als Wiederholtes. Und auch Deleuze wird immer besser, je öfter man die Lektüre wiederholt. Für diese Wieder(hervor)holung seiner Texte ist Herausgeber und Verlag zu danken.

Titelbild

Gilles Deleuze: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003.
440 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3518583743

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