Erkundungen im filmischen Grenzland von 'Realität' und 'Fiktion'

Charles Martigs und Leo Karrers Band zu den Traumwelten des Films

Von Christina SchererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Scherer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band geht zurück auf das Symposium "Traumwelten" der internationalen Forschungsgruppe "Film und Theologie" im Frühsommer 2001 in Fribourg. "Das Symposium", erläutern die Herausgeber in ihrem Vorwort, "reflektierte aus theologischer und ästhetischer Perspektive über die Funktionalität und Sinnhaftigkeit von Traumdarstellungen." Anhand ausgewählter Filmbeispiele wurde "nach der Bedeutung des Traums für die Theologie sowie für die Ästhetik des Kinos als sozialer Ort des Träumens und Erinnerns gefragt." Die Verbindung zwischen Kino und Theologie unter dem gemeinsamen Nenner des Traums wirkt allerdings, soviel sei vorweg gesagt, teilweise recht bemüht und spielt bei den meisten Beiträgen des Bandes auch kaum eine Rolle, was ihnen aber nicht unbedingt zum Nachteil gereicht. Die ersten Beiträge des Bandes widmen sich grundsätzlichen Überlegungen zum Traum und zu seinem Zusammenhang mit dem Kino/Film, wobei die Traumdeutung und die Psychoanalyse nach Freud breiten Raum einnimmt und so, berechtigt oder nicht, noch immer als der wesentliche Punkt erscheint, an dem sich dieser Zusammenhang aufweisen lässt. Es folgen Analysen einzelner Filmemacher und Filme, vertreten sind Werkbetrachtungen zu Luis Buñuel, Ingmar Bergman, David Lynch, Peter Weir und schließlich Laetitia Masson mit ihrem Film "Love Me".

In seinen skizzenhaften philosophischen und theologischen Annäherungen an Träume und Wünsche verweist Walter Lesch auf die Kritik des rationalen Wissens, die dem Traum inhärent ist. Nicht nur der Diskurs des Realen und Rationalen, sondern vielmehr das Wünschen oder Begehren können als wesentliche Triebfeder des Denkens und Handelns beschrieben werden, und das Imaginäre selbst gestaltet Wirklichkeit. Die Traumanalyse kann mit Freud, der den Traum als phantasierte Wunscherfüllung verstanden hat, zur Analyse des Wünschens werden. Träume und ihre Deutungen, so Lesch, "sind wie archäologische Grabungen in den Schichten der angehäuften, aber unverstandenen Lebenserfahrung." Verbindungen zwischen Film und Traum sieht Lesch vor allem in der Spannung zwischen Realem und Irrealem, zwischen der Reproduktion der sichtbaren Welt und der Inszenierung innerer Bilder, in der Verwischung der Grenzen von Innenwelt und Außenwelt, Wirklichkeit und Einbildungskraft. Das "Traumargument" in der Philosophie, die Unsicherheit der Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit, die Descartes dazu geführt hat, allein die Rationalität des "cogito" anzuerkennen, wird im Bereich der Ästhetik produktiv zum poetischen Impuls gewendet.

Es hätte sich - auch für die anschließenden Beiträge im Band - gelohnt, einigen interessanten Hinweisen bei Lesch noch weiter nachzugehen. So weist Lesch darauf hin, dass die Traumforschung mittlerweile ihre Impulse weniger von Freud, sondern vielmehr von den Neurowissenschaften erhält. Die strikte Trennung von Schlaf- und Wachzuständen, die mittlerweile auch in den avancierten Traumdarstellungen weitgehend verabschiedet worden ist (siehe etwa die Filme von Lynch), ist durch eine Beschreibung neuronaler Aktivitätsmuster abgelöst worden, in denen der Wachzustand als Zustand hoher Selbstreflexivität gekennzeichnet ist, der Traumzustand hingegen als ein "Laboratorium von Emotionen" erscheint, einhergehend mit der Entfaltung hoher Bildkompetenz. Dieses Modell erlaubt eine Reihe fließender Übergänge und hierarchisiert Wach- und Traumzustände nicht, was den Spiegelungen des Traums im Ästhetischen sehr genau entspricht. Auch Leschs knappe Ausführungen zur Philosophie des Traums wären auszuweiten und versuchsweise auf filmische Spiegelungen des Traums anzuwenden, vor allem dort, wo es um die Grenzen der Möglichkeit von Erkenntnis und den zweifelhaften Status von Realitätskonstrukten geht.

Hartmut Raguse stellt in seinem Beitrag die Traumdeutung in der Tradition von Sigmund Freud vor, wobei er betont, dass Gegenstand der Traumdeutung nicht der Traum, sondern die Erzählung eines Traums sei (womit sich also die Traumdeutung immer schon nahe am Bereich des Ästhetischen und Fiktionalen befindet). Die vier Kategorien der Traumarbeit nach Freud - Verdichtung, Verschiebung, Symbolverwendung und das Umsetzen von Gedanken in visuelle Bilder - sind es, die den wichtigsten Einfluss auf bildende Kunst und Literatur ausgeübt haben. Selbst Freud aber hat dem Traum einen Rest an Undeutbarkeit eingeräumt, "der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unbekannten aufsitzt". So muss jeder Deutungsprozess uneindeutig und unabschließbar bleiben und ist überdies situations- bzw. kontextbedingt.

Mechthild Zeul stellt in ihren "Bausteinen einer psychoanalytischen Filmtheorie" anhand der Positionen von F. Morgenthaler, Alfred Lorenzer, Jean-Luc Baudry und anderen Parallelen zwischen der psychoanalytischen Lesart des Traums und dem Film her. Die Übereinstimmungen, die sie dabei zwischen Traum und Film feststellen kann - beide seien nicht pathologisch, sondern Alltagsprodukte, beide hätten "interaktionellen" und kommunikativen Charakter, beide bedienten sich vorbewusster Ich-Aktivitäten und kreativer Produktionsweisen - sind allerdings derart allgemein, dass sie kaum zu einer (Er)Klärung des spezifischen Verhältnisses von Traum und Film taugen, lassen sie sich doch auf fast alle Medien und Künste anwenden. Wo die Übereinstimmungen nicht banal sind, sind sie problematisch: wie ist auf der Produktionsseite eines Films ein subjektives Ich auszumachen, auf das die vorbewussten Ich-Aktivitäten zurückgehen - bei einem Medium wie dem Film, bei dem üblicherweise nicht nur ein Mensch allein beteiligt ist? Im Zentrum von Zeuls Ausführungen steht das Konzept der Traumleinwand ("dream screen"), das auf Bertram Lewin zurückgeht und, wie Zeul aufzeigt, von Baudry und anderen filmtheoretisch adaptiert wurde. In der Traumleinwand manifestiere sich eine "primitive Objektbeziehung zwischen dem Medium und dem Zuschauer". Diese Beziehung werde durch eine Trias "oraler Wünsche" - schlafen, essen und gegessen werden - konstelliert. Lewin hatte sie in der Stillsituation verankert, in der mit dem Einschlafen des Säuglings an der Brust die Wünsche des Kindes danach, zu verschlingen und verschlungen zu werden, verbunden seien. Es geht Lewin aber nicht, wie Zeul betont, um die reale Stillsituation, sondern um die "halluzinatorische Wiederbesetzung des Schlafwunsches im Traum, der nicht zu trennen ist von den [...] Wünschen, [...] von der Brust verschlungen zu werden, sie aber auch zu verschlingen." In der Traumleinwand manifestiere sich der latente Gedanke "Brust", so dass sie nicht als leere weiße Leinwand zu verstehen sei, sondern als "frühe Repräsentanz" und "visuelle Erinnerungsspur". Sie wird zur halluzinatorischen Befriedigung des Wunsches, an der mütterlichen Brust einzuschlafen. "Auf die Kinosituation bezogen, bedeutet dies, nicht real zu schlafen [...] sondern einzutauchen in die Welt der halluzinatorischen Wunscherfüllung, der Traumleinwand ohne von den Filmbildern aufgeweckt zu werden." Die Beobachtung, dass Zuschauer manchmal den Kinosaal vor Ende des Films verlassen, führt Zeul auf ein "Wegrollen" der Traumleinwand zurück, der Zuschauer gerate in einen Wachzustand, der häufig von Desinteresse und Langeweile begleitet sei. Mag sein, dass das Konzept der Traumleinwand und die damit verbundenen psychoanalytischen Voraussetzungen nur der psychoanalytisch wenig versierten Rezensentin absurd erscheinen, sie enthalten jedoch Elemente, die das Filmmedium geradezu denunzieren, vor allem, wenn das Kinoerleben allein als Regression erscheint und als "primitive" Beziehung zwischen Zuschauer und Film beschrieben wird (Rückkehr zum oralen Stadium). Statt von "Schlafen" und "Erwachen" ("Wegrollen der Traumleinwand") im Kino wäre eher von einer graduellen Abstufung der bewussten Reflexion der eigenen Wahrnehmungssituation durch den Zuschauer zu sprechen. Ein Zustand erhöhter Reflexion (Wachsein) kann durchaus mit Interesse des Zuschauers am Filmgeschehen verbunden sein. Und wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass die psychoanalytische Filmtheorie nur erklärt, was sie bereits voraussetzt, hier ist er.

Matthias Brütsch stellt Positionen aus der klassischen Filmtheorie zu Subjektivierung und Traumdarstellung vor. Er bezieht sich dabei auf Texte von Hugo Münsterberg, Béla Balász, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer und Jean Mitry, die er sehr differenziert auf die Frage hin untersucht, wie der Film psychische Prozesse, die subjektive Befindlichkeit von Figuren darzustellen vermag und wie die genannten Filmtheoretiker diese Mittel bewerten: entsprechen sie dem 'Wesen' des Films oder nicht? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage geschieht vor allem entlang der Unterscheidung von Fiktionalität und Realität im Film und berührt auch die Debatte um den Film als eigenständige Kunstform. Wenn vor allem der Realitäts- oder Abbildungscharakter als Wesen des Films bestimmt wird, läuft das Fantastische und Subjektive dem möglicherweise zuwider. So sieht insbesondere Arnheim den Realitätscharakter des Mediums in Gefahr, während Münsterberg und Balász Subjektivierungen und Traumdarstellungen eher als Bereicherung ansehen. Es bleibt aber die Materialität der sichtbaren Welt, die im Film repräsentiert wird, der zentrale Bezugspunkt auch für die Darstellung des Subjektiven.

Die weiteren Beiträge im Band wenden sich konkreten Werkbetrachtungen zu, wobei psychoanalytische Deutungsmuster ihre Prominenz zunehmend verlieren. Moritz Geisel stellt in seinem informativen Beitrag zu Buñuel und den Surrealisten die bekannt große Bedeutung des Traumthemas für die Surrealisten heraus. So wird im "Surrealistischen Manifest" von Breton die Aufhebung des Gegensatzes von Traum und Realität geradezu zum Kern des Surrealismus. Obwohl sich die Surrealisten von Freud und seinem Traumbuch beeinflusst zeigen, wurde diese Zuneigung zunächst nicht erwidert, gehörte doch das Ineinander von Traum und Realität gerade nicht zum Ziel von Freuds Traumanalysen. Es zeigt sich also, dass Freuds Traumbuch in der Sphäre des Ästhetischen seine eigene Wirkungsgeschichte entwickelt, die zur Psychoanalyse nur teilweise parallel läuft. So hat Buñuel, wie Geisel anführt, symbolische und psychologische Deutungen seiner Filme abgelehnt, wenngleich durch seine filmischen Motive und formale Verfahren, die den Eindruck des Traumartigen erwecken, auch herausgefordert. Was sich bei Buñuel bereits zeigt, etwa in "Le Charme discret de la bourgeoisie" (1972), ist eine zunehmend unklar werdende Abgrenzung von Traum und Realität, die Geisel in einer dezidierten Analyse der Filmstruktur aufzeigt, wird auch von Dietmar Regensburger in seiner Darstellung von Traumstrukturen in den Filmen Ingmar Bergmans beobachtet: Er sieht in Bergmans Œuvre einen Spiegel der formalen und stilistischen Entwicklung von Filmträumen. Ausgehend von "Wilde Erdbeeren" (1957) bis "Persona" und "Die Stunde des Wolfs" (beide 1966) zeichnet Regensburger den Weg von klar umrissenen und relativ einfach deutbaren Traumsequenzen bis zum gleitenden Übergang von Traum und Wirklichkeit nach, wobei die Ungewissheit über den Realitätscharakter des Gesehenen in späteren Filmen ("Schreie und Flüstern" (1972), "Von Angesicht zu Angesicht" (1975)) wieder etwas zurückgenommen wird - was dann auch die These, in Bergmans Werkgeschichte spiegele sich der Umgang mit den Traumthema in der Filmgeschichte wieder, abschwächt.

In denjenigen Beiträgen des vorliegenden Bandes, die sich Filmbetrachtungen widmen, zeigt sich immer wieder eine Problematik: die Abgrenzung von Realität und Fiktion im Film. Genauer müssten die Autoren eigentlich anstatt von "Realität" von "filmischer" bzw. "außerfilmischer Realität" sprechen, denn die filmische Realität ist ihrerseits Fiktion. Wirklich reflektiert wird diese Problematik eigentlich nur von Charles Martig und Matthias Müller. Müller schreibt: "Bei einer filmischen Traumdarstellung handelt es sich immer schon um einen Traum von einem Traum, während filmische Realität nichts anderes ist als ein Traum von einer Realität." Der Film erschafft seine eigene innerfilmische Wirklichkeit, die in keiner Weise ähnlich plausibel (etwa hinsichtlich physikalischer Eigenschaften, der Struktur von Raum und Zeit) wie die vom Zuschauer erfahrene außerfilmische Wirklichkeit sein muss und dennoch vom Zuschauer als (innerfilmische) Realität verstanden werden kann und auch wird. Wenn also der Traum vor allem durch die Irrealität in der Durchbrechung von zeitlichen und räumlichen Kontinuitäten und anderen Verfremdungsverfahren bestimmt ist, so sind diese Mittel dem Film immer schon eigen: Raffung, Rückblenden, Gleichzeitigkeit von Handlungsebenen etc. gehören zu den narrativem Konventionen des Films, ohne dass damit notwendig eine Traumdarstellung verbunden sein muss.

Genau mit diesen innerfilmischen Realitätsebenen und Konstruktionen des Fiktiven bzw. der filmischen Narration spielen die Filme von Lynch und Masson, die sich durch einen hohen Grad an Selbstreflexivität auszeichnen, also die Konstruktionen als solche auch sichtbar machen und der filmischen Durchdringung von Traum und 'Wirklichkeit' eine Metaebene hinzufügen. Lynch geht es dabei nicht mehr, wie Martig betont, um verschlüsselte (filmische) Träume als Gegenstück zur Wirklichkeit, die decodiert werden müssen, sondern darum, Traum und Wirklichkeit in ein nicht unterscheidbares Kontinuum einzuweben. Wenn die Traumanalyse nach Freud als ein hermeneutisches Verfahren beschrieben werden kann, an dessen Ende eine Deutung steht, so stößt dieses Verfahren hier angesichts der mehrschichtigen, diskontinuierlichen Erzählweise, der Selbstbezüglichkeit filmischer Zeichen und der Dezentrierung des (filmischen) Subjekts an ihre Grenzen, und es gibt mehrere Deutungsvarianten, bei denen jeweils 'Reste' des Unverstandenen zurückbleiben können. Die Möglichkeit und Plausibilität von Deutungsvarianten spielen die Aufsätze von Ulrike Vollmer und Matthias Müller zu Massons Film "Love Me" (2000) durch, wobei Müller genau diejenigen Sequenzen, die Vollmer als Träume deutet, als (innerfilmische) Realität begreift. Beide erfassen in ihren unterschiedlichen Ansätzen - Vollmer vor allem durch die Gender-spezifische Lesart, in der sie das weibliche Traum-Ich als Projektionsfigur männlich definierter Weiblichkeit definiert, Müller vor allem durch eine "dekonstruktive" Lesart, die sich an formalen Schlüsselzeichen orientiert - jeweils unterschiedliche Aspekte des Films.

Dem Band kommt unbestreitbar das Verdienst zu, die Beziehung von Film und Traum noch einmal aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, wobei man sich mancher Perspektive etwas weniger Prominenz gewünscht hätte (so sind Freud und die Psychoanalyse in der hier präsentierten Form wenig geeignet, das Traumthema in Filmen wie denjenigen Lynchs und Massons zu erschließen), anderen etwas mehr (Ästhetik- und Kunsttheorie, Philosophie, neuere Erkenntnisse in der Traumforschung). Die einzelnen Beiträge sind relativ disparat, sowohl thematisch als auch von der Darstellungs- und Erkenntnistiefe her, was sich aber in einem Sammelband kaum vermeiden lässt. Für alle, sie sich mit Film und/oder dem Traumthema beschäftigen ist das Buch informativ, doch die Qualität des 1998 erschienenen und von Bernard Dieterle herausgegeben Sammelband "Träumungen" erreicht er aus filmwissenschaftlicher Sicht nicht.

Titelbild

Charles Martig (Hg.): Traumwelten. Der filmische Blick nach Innen.
Schüren Verlag, Marburg 2003.
236 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3894723416

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch