Surrealismus als Lebenskunst

Ralf Schlatters Erzählung "Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor"

Von Ulla TiggesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulla Tigges

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er gehe "das Weite suchen", sagt Gustav Julius Kaufmann, steigt aus der S-Bahn und steuert nicht, wie jeden Morgen, sein Züricher Vorortbüro an, sondern macht sich schnurstracks auf den Weg nach Maliaño. Denn dort sitzt die Radio-Metereologin Ida Nordpol Zeppelin vor ihrem Mikrofon und sagt ein langanhaltendes Hoch namens Gustav voraus. Ihre Stimme kennt Gustav aus dem Weltempfänger, und sie hat ihn so sehr bezaubert, dass er nicht anders kann als der Verheißung der Wettervorhersage zu folgen. Maliaño stellt er sich übrigens auf einem Hügel vor.

Obwohl zwischen dem Ausgangsort Pfäffikon und Maliaño nicht nur klanglich Welten liegen, gibt es keine Sprachprobleme oder sonstigen Hindernisse, denn es handelt sich um eine surrealistische Fantasiereise. Ralf Schlatter, der bereits für seinen ersten Roman, "Federseel", mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, versteht es meisterhaft, Details aus dem Alltag und der Familiengeschichte seines Helden symbolträchtig mit dessen Traumreise zu verweben und so die Grenzen zwischen den beiden Lebensräumen zu verwischen. Der Autor erweist sich dabei als sprachverliebter Sammler skurriler Einfälle (hier zeigt sich der Kabarettist Schlatter): Zahnseide, Woodstock, Futons, Kinokarten, um nur einige Beispiele zu nennen, werden zu einem ganz eigenen Kosmos vernetzt, der zwar in sich abgeschlossen ist, zugleich aber Elemente einer parallel existierenden, realistisch geschilderten Ebene aufgreift und verfremdet. In diesen Kosmos ist auch die Hauptfigur Gustav verstrickt. Er, wie auch die anderen Figuren, sind bewusst künstlich gezeichnet, ihre Namen einfach der Buchstabiertafel entnommen. Damit erwecken sie den Eindruck von Spielfiguren, mit denen der Autor ebenso geschickt jongliert wie mit den genannten Details. Als Spielleiter schickt er einen allwissenden Ich-Erzähler ins Feld, der den für das Leseverständnis nötigen Zusammenhang stiftet und seine zahlreichen Ankündigungen, wie "mehr dazu später" oder "wir werden sehen", buchhalterisch genau einlöst.

Zugegeben, das alles wirkt konstruiert. Auch bürdet Schlatter der 150 Seiten schmalen Erzählung etwas zu viel an Ideen auf. So gestattet er beispielsweise dem Erzähler allzu häufig Umwege, die nichts mehr oder nur noch sehr am Rande mit der Geschichte zu tun haben: Bei jeder Gelegenheit lässt er ihn in populärwissenschaftlicher Manier über Kurzwellen, Gesteinsbildungen, Krankheiten und natürlich über das Wetter referieren. Dennoch bleibt die Erzählung nicht einfach Spielfeld des experimentierfreudigen Autors, denn es gelingt ihm, die Leser in ein Verwirrspiel zu verwickeln, das sie die Entstehung von Fiktion miterleben lässt. Welche der Figuren nun eigentlich die Fäden in der Hand hält, ist längst nicht so klar, wie es zunächst scheint. Ist es tatsächlich der über allem schwebende Erzähler oder doch Gustav, der Träumer, der eigentlich gar nicht so sehr sucht, wie er im Eingangszitat behauptet, sondern einfach nur findet - erfindet? Gustav ist kein Aussteiger, vielmehr ergibt sich sein Aufbruch ohne eigenes Zutun. Dafür findet Schlatter wunderbar sprechende Bilder, etwa wenn Gustav unterwegs philosophiert: "Über eine kleine Erhebung gehend, befällt mich plötzlich die Vorstellung, dass die Landschaft ein Bild ist, eine gigantische Leinwand, [...] und Stück für Stück wird sie vor mir aufgezogen und verändert sich ständig und unmerklich, und Schritt für Schritt verschwindet sie unter meinen Füßen, wird mir sozusagen unter den Füßen weggezogen. Damit verbunden registriere ich eine gewisse Unmöglichkeit, stehen zu bleiben. Die Leinwand würde mich rückwärts ziehen. Ich käme nicht mehr gegen sie an." Diesem Gezogenwerden setzt Gustav dann aber seine Vorstellungskraft entgegen und übernimmt selbst Inszenierung und Besetzung des Films, der auf dieser Leinwand ablaufen soll. Einer Szenenanweisung gleich entwirft er unterwegs ein genaues Bild von Maliaño und seinen Bewohnern. Mit traumwandlerischer Sicherheit gelangt er an sein Ziel, und es entspricht tatsächlich exakt seinem Entwurf. Die Leinwand als Tabula Rasa also, mit deren Hilfe eine Kunstfigur zum Eigenleben erwacht und sich schließlich als Lebenskünstler erweist. Dies zeigt sich gerade dadurch, dass Gustav, der das Weite suchte, sich schließlich in einem engen, mit Tatamis (japanischen Matratzen) ausgelegten Anbau wiederfindet und die mit Wachsmalkreiden an die Decke gemalte Weltkarte betrachtet. Über seine Kindheit lesen wir an einer Stelle: "Gustavs Weltraum maß drei Tatamis". Besagter Anbau misst gerade einmal fünfeinhalb, aber das reicht, denn Gustav wird von seiner Reise zurückkehren und - so viel sei verraten - sie hat ihm sogar weiter geholfen.

Titelbild

Ralf Schlatter: Maliano stelle ich mir auf einem Hügel vor. Erzählung.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2003.
144 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3036951172

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