The Real Blue Thing

Richard Cook erzählt eine legendäre Jazz-Geschichte

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Alben des New Yorker Plattenlabels Blue Note Records umweht eine ähnliche Aura wie die schwarzen Broschüren aus dem Verlag Kurt Wolffs, in denen der literarische Expressionismus seinen authentischen Ausdruck fand. Auch Blue Note existierte als kleiner, unabhängiger Jazz-Verlag abseits der Kulturindustrie und verstand sich weniger als kommerzielles Unternehmen denn als künstlerisch ambitioniertes Projekt des modernen Jazz, wobei sorgfältiges Handwerk in technischer Hinsicht, ein Faible für musikalische Experimente und anspruchsvolles Cover-Design, Engagement und Integrität ineinander spielten. Am Vorabend des zweiten Weltkrieges von zwei aus Berlin stammenden jüdischen Immigranten, Alfred Lion (1909-1987) und Frank (Francis) Wolff (1907-1971) gegründet, prägte Blue Note Records vor allem in den späten vierziger und fünfziger Jahren die Zeit des Bebops und Hardbops, ehe es in den späten sechziger Jahren von einem größeren Konkurrenzunternehmen übernommen wurde und zeitweise von der Bildfläche verschwand.

Längst ist Blue Note zum Mythos geworden, dem Richard Cook, Herausgeber der "Jazz Review", in seinem als "Biographie" deklarierten Buch mit kritischer Sympathie und detailreicher Kenntnis nachspürt. "Ich hätte das Buch lieber ,Anmerkungen zu einer Geschichte' genannt", schreibt Cook in seinem Vorwort, "aber moderne Marketingstrategien verhindern solche Bescheidenheit." Es ist weniger eine umfassende "Biographie" von Blue Note Records mit all seinen Facetten, sondern in erster Linie eine einfühlsame und scharfsinnige Analyse der wichtigsten Blue-Note-Sessions, eingebettet in eine glänzend geschriebene Erzählung über den Aufstieg und Niedergang eines "alternativen Projektes" am Rande der kapitalistischen Kulturindustrie. Zu Recht erhielt das erstmals 2001 bei Secker & Warburg erschienene Buch von der "New York Times Book Review" über "Rolling Stone" und das Internet-Portal "All That Jazz" bis zum deutschen E-Kulturmagazin "Titel" einhelliges Lob, wobei Thomas Wörtches Urteil, es sei Geistes- und Zeitgeschichte ein wenig hochgegriffen ist, da Cook seinen Blick auf das kleine Blue-Note-Universum fokussiert, während soziale und politische Hintergründe in den Außenbezirken der übrigen Gesellschaft unterbelichtet bleiben. Ereignisse wie der zweite Weltkrieg, Rassismus, Bürgerrechtsbewegung und Ghettoaufstände werden en passant erwähnt, scheinen jedoch kaum Auswirkungen auf die Existenz der Protagonisten gezeitigt zu haben.

Nichtsdestotrotz beschreibt Cook detailgenau die Entwicklung des Mikro-Unternehmens, das als Prototyp für viele unabhängige Kulturagenturen dieser Art steht. Mit Lion und Wolff (der viele Aufnahme-Sessions mit seiner Fotokamera für die Plattencover und die Nachwelt dokumentierte) porträtiert er voller Empathie zwei Jazzenthusiasten, zwei Fremdlinge in New York, die den Jazz anders als das amerikanische Mainstream-Publikum begriffen und in ihm eher eine moderne Kunstform denn profitträchtige Unterhaltungsmusik sahen. Zusammen mit dem herausragenden Tontechniker Rudy van Gelder und dem Graphiker Miles K. Reid schufen sie ein Environment, in dem die Künstler (nicht immer, aber doch oft) zu Höchstleistungen aufliefen. Unter dem mikroskopischen Blick Cooks werden nicht allein die Beiträge von Jazz-Heroen wie Sidney Bechet, Thelonius Monk, Miles Davis, John Coltrane, Art Blakey und Horace Silver hervorgehoben, sondern auch die Arbeiten weniger bekannter Musiker wie Ike Quebec oder Hank Mobley finden ihre kritische Würdigung. Obwohl Cook keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Blue-Note-Welt macht, stellt das Buch dennoch keine lobhudelnde Hagiographie dar: Nicht jedes Blue-Note-Album war ein Meisterwerk, und so manches Experiment ging schief. Es gehört zur Integrität eines Kritikers, dieses Misslingen offen zu benennen und bei aller Eingenommenheit für "Projekt" Blue Note auch die Leistungen anderer, weniger mythenbehafteter Labels wie Verve oder Impulse! anzuerkennen. Und ihm ist es gelungen, das Buch vom Insider-Klatsch und Jargon des "Jazzperten" freizuhalten und es auch für Menschen abseits der fanatischen, bramarbasierenden Jazz-Rackets lesbar zu machen.

Am Ende scheiterte das Blue-Note-Projekt an den Gesetzen des Kapitalismus. Das Label verfügte nicht über die ökonomische Macht, um auf Dauer gegen die übrigen Agenturen der Kulturindustrie ankämpfen zu können, sodass Lion 1967 einer Übernahme durch Liberty Records zustimmte. Danach hielten die üblichen Marketingagenten eines großen Unternehmens Einzug, die alles nach den Regeln von Addition und Subtraktion einteilten: Am Ende zählte nur, ob die Rendite stimmte. Nach dem Rückzug Lions und dem Tod Wolffs verlor Blue Note seine qualitative Ausrichtung und stellte 1979 für einige Jahre seine Produktion ein. Nachdem jedoch die zum EMI-Konzern gehörende Firma Capitol Records das Label sich einverleibte und Bruce Lundvall die Verantwortung für die Jazz-Sektion übernahm, wurde Blue Note neues Leben eingehaucht, auch wenn es nicht länger eine treibende Kraft im modernen Jazz war. Da Lion und Wolff lediglich einen Bruchteil ihres aufgenommenen Materials veröffentlicht hatten, blieben ihren Nachlassverwaltern die Möglichkeit, die künstlerische Vielfalt der alten Blue-Note-Zeit ausgiebig zu dokumentieren. Zudem profitierte das Unternehmen davon, dass die Langspielplatte von der Compact-Disc abgelöst wurde und viele Jazz-Fans ihre Sammlungen auf das neue Medium umstellten.

Mittlerweile wird jedoch selbst qualitativ minderes Material veröffentlicht, sodass der Hebung vorgeblich verborgener Schätze der Ruch des Fragwürdigen anhaftet. So wurde unlängst ein tontechnisch mangelhafter Mitschnitt eines Birdland-Konzertes von Miles Davis aus dem Jahre 1951 herausgegeben, den Rezensenten auf der Blue-Note-Webseite als "Desaster" und "Schande" kritisieren. Diese Veröffentlichung sei, so ein Kritiker, eine "zynische Übung" und zerstöre die Reputation, die sich Blue Note über die Jahre hin aufgebaut habe. Auf der anderen Seite stehen mit Van Morrison und Norah Jones Künstler unter Vertrag, die wenig mit Jazz zu tun haben, sodass Blue Note Gefahr läuft, im Mainstream der Kulturindustrie seine Eigenart zu verlieren. Diese Entwicklung sieht Cook am Ende zwiespältig: Einerseits muss das "neue" Blue Note den Spagat zwischen Jazz und Profitmaximierung vollbringen, sich als "Profit Center" im Konzern beweisen; andererseits will Lundvall das Erbe des "alten" Blue Notes nicht verraten. Ob es schließlich gelingt, mehr als ein bloßes Label im riesigen Konzern zu bewahren, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Ein Manko der deutschen Ausgabe dieses Buches ist freilich, dass die Schwarz-Weiß-Fotografien der englischen und amerikanischen Ausgaben weggelassen wurden, und auch das Fehlen eines Indexes ist überaus störend. Dies ist freilich nicht Richard Cook anzulasten, der mit dieser "Biographie" eine brillante Arbeit leistete.

Titelbild

Richard Cook: Blue Note. Die Biographie.
Argon Verlag, Berlin 2004.
303 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3870245999

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch