Dichtung westlich der Trauer

Odysseas Elytis' Gedichtband "Oxópetra"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Bibliothek Suhrkamp ist ein schmales, aber gewichtiges Bändchen mit Gedichten des griechischen Nobelpreisträgers Odysseas Elytis (1911-1996) auf Griechisch und Deutsch erschienen, das dessen letzte Gedichtzyklen "Oxópetra Elegien" und "Westlich der Trauer" enthält. Bei den "Oxópetra Elegien" handelt es sich um das dichterische Vermächtnis des Griechen, das noch einmal all seine wichtigen Lebensthemen zur Sprache bringt. Die Gedichte von "Westlich der Trauer", die ein Jahr vor dem Tod von Elytis in Athen erschienen sind, bilden eine inhaltlich und formal passende Ergänzung zum ersten Gedichtzyklus. Die Gedichte des vorliegenden Buches gelten als exemplarisch für das reife Spätwerk von Elytis, in dem dieser in verdichteter Form seine Motive wie Sonne, Licht, Meer, Seele, Leben, Unsterblichkeit, dichterische Sprache, Mythen, Gott und Tod nochmals versammelt, die schon die Frühphase und die mittlere Schaffensperiode mit dem Hauptwerk "To axion esti. Gepriesen sei" geprägt haben.

Besonders markant sind im ersten Zyklus drei Gedichte, die jeweils einen Dichter - Friedrich Hölderlin, Friedrich von Hardenberg alias Novalis und Dionysios Solomos - anrufen. Insbesondere das Gedicht "Solomos' Ergebenheit und Scheu" demonstriert die Ehrfurcht, die Elytis für seinen großen dichterischen Ahnherrn empfindet.

"Ach könnte ich dir dort
Als Morgengruß lassen einen Lorbeerzweig mit Früchten
Da du solch eine Nacht ohne Schlaf verbracht. Erkennbar
Auf dem weißen Papier holpriger noch als das Pflaster von
Messolongi
Ja. Weil er dich einmal brauchte hat Gott dir die Lippen
vergoldet
Welch Wunder du sprichst und deine Hände öffnen sich
Daß selbst ein Stein sich sehnt Eckstein neuer Kirche zu
werden
Und die Koralle glatte Zweige zu treiben deine Brust
Nachzubilden."

Neben Andreas Kalvos ist Dionysios Solomos derjenige, dem die Herausbildung des Neugriechischen zu verdanken ist. Angetrieben durch ein leidenschaftlich patriotisches Interesse für Griechenland, wechselte der zuerst in Italien lebende Grieche Solomos sowohl seine Heimat als auch seine Sprache. Insbesondere das Gedicht "Hymne an die Freiheit", das später zur Nationalhymne Griechenlands avancierte, trug zur Etablierung des Neugriechischen als eigenständiger Schrift- und Literatursprache bei. Elytis betont durch seine Anspielung auf Messolongi, wo Solomos die Hymne schrieb, die enge Verknüpfung von Nationaldichtung und Patriotismus. Solomos, der sich angeblich erst langsam das Griechische aneignen musste, weil er in Italien aufgewachsen war, sah in einer 'Renaissance' der griechischen Kultur den einzigen Weg der Emanzipation von der türkischen Vorherrschaft und zur Etablierung eines griechischen Nationalstaats. Dichtung und Befreiung wurden hier als Einheit gedacht. Auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht zu haben, ist nach Elytis die Leistung, für die ihm der erwähnte Lorbeer als Siegeszeichen gebührt. Mit der Zeile "hat Gott dir die Lippen vergoldet" wird erkennbar, dass Elytis um die sprachliche Qualität von Solomos' Versen weiß, ein Faktum, das dem Mythos widerspricht, Solomos habe sich das Griechische von Grund auf erst in späteren Jahren seines Lebens aneignen müssen. Über die Entfaltung der Sprache wird im Anschluss an die reiche antike Kultur eine 'Renaissance' der griechischen Tradition heraufbeschworen.

Auch die beiden anderen Gedichte, die sich mit Novalis und Hölderlin befassen, schildern sowohl das Schicksal dieser dichterischen Vorbilder, als auch die einflussreiche Rolle, die sie für Elytis und dessen eigenes Schreiben spielen. Gerade die deutsche Romantik bildet einen wichtigen, immer wiederkehrenden Bezugspunkt für Elytis. Exemplarisch wird das an zwei Strophen, einer aus "EROS UND PSYCHE" und einer anderen aus "GRÜNINGER ELEGIE":

"In alter Zeit der edlen Diotima
Durch geistigen Gesang es gelang
Den Verstand des Menschen und den Lauf von Schwabens
Wassern zu ändern
Auf daß Liebende hier seien und dort
Von zwei Sternen und doch nur ein einziges Los"

"Rheinlands Auen vor Zeiten in mir verstummt
Jetzt wie vom Jagdhorn aufgespürt sind sie da
Wappen Stammbäume die ich zwölfjährig ungewollt
entdeckt
Es war der erste einzige Traum"

In "EROS UND PSYCHE" wird unter anderem Hölderlins Auseinandersetzung mit der griechischen Antike als einschneidendes Ereignis seiner Dichtung erwähnt, zugleich wird in der Umkehrung das Resultat Hölderlins wiederum für Elytis selbst zum Anstoß für sein eigenes Unterfangen einer modernen griechischen Dichtung. Ähnlich lässt sich auch die zitierte Strophe aus der "Grüninger Elegie" lesen. Hier findet der Tod von Novalis' Geliebter Erwähnung, und dies ist der Auslöser für eine Beschäftigung mit der romantischen Landschaft. Elytis spielt parallel zudem auf seine eigene Beziehung zur deutschen Romantik an, die ihn schon in frühesten Jahren beeindruckt hat.

Elytis' Dichtung wird des weiteren oft von dem Bestreben bestimmt, die Themen und die ihnen adäquate Sprache aus einem Verständnis der griechischen Landschaft heraus zu entwickeln. So evoziert er beispielsweise das mediterrane Licht oder die maritime Inselwelt Griechenlands: Die Naturschilderungen drücken sich in Metaphern aus, die, indem sie auf surreale Weise verdichtet werden, zugleich über den Aspekt der reinen Beschreibung hinausgreifen, um auf vielfältige Weise die Gefühlswelt des Lesers anzusprechen. Das wird gleich im ersten Gedicht "AKINDYNOU, ELPIDOPHOROU, ANEMPODISTOU" deutlich, wo es heißt:

"Dann wenn die Gestirne ihre Wache wechseln. Und die Berge
leicht im dunklen Wind etwas über dem Horizont stehen
hie und da der Geruch nach verbranntem Kraut. Und eine Trauer
unbekannter Abkunft
Ritzt von oben her
ein Rinnsal ins schlafende Meer
Was ich nicht weiß leuchtet in mir. Und doch leuchtet's"

Die Landschaft wird in Bezug zum Betrachter und zum Leser gesetzt, vor dem inneren Auge des Rezipienten ersteht die mediterrane Welt mit dem klaren Nachthimmel, dem vom Wind leicht bewegten Meer und den sanft sich erhebenden Inselbergen. Analog zu Prousts "mémoire involontaire" ruft der Geruch verbrannten Krauts das Gefühl einer nicht näher verstehbaren Trauer hervor. Doch das Panorama, das zuvor noch als romantisch-griechisches Bild fungierte, wird durch diese Melancholie auf unsichtbare Weise hauchfein geritzt und damit beschädigt. Mit diesem surrealistischen Bild evoziert Elytis eine Bildtradition, in der à la Salvador Dalì das Meer geritzt oder wie eine Decke angehoben werden kann. Elytis lässt auf diese Weise in seiner Dichtung verschiedene Traditionen zusammenfließen, ohne dabei einem Eklektizismus zu verfallen. Vielmehr begibt sich der Autor selbst noch einmal auf die Wanderschaft durch sein eigenes Werk, das in seiner frühen Phase besonders von den surrealistischen Gedichten Paul Eluards beeinflusst wurde. Letztere wurden zum Auslöser für eine lange Beschäftigung mit den Errungenschaften der Pariser Moderne und mündeten in eine Synthese mit seinen griechischen Ursprüngen.

Diese Zuwendung zum eigenen Oeuvre durchweht ein gewisser melancholischer Zug, der, charakteristisch für ein Spätwerk, aus einer Mischung von Gelassenheit und dem Zwang, Bilanz zu ziehen, getragen wird. Besonders deutlich wird diese Abschiedsbewegung im Gedicht "DIE IKONE", wo am Schluss der Rückstieg in die eigene Vergangenheit der Kindheit auf die Zukunft und das Jenseitige hin gewendet wird:

"Die Mauer! Und das Treppengeländer
Rohes Holz poliert von vielen weichen Händen!
Beladen mit Alter und Jugend steige ich wieder hinauf
Weiß wo die alten Dielen knarren und wann
Mich aus ihrem Rahmen Tante Melissi anblicken wird
Und ob es morgen regnet.
Vielleicht fordere ich zurück was mir von jeher gehört
Vielleicht einfach einen Platz in Kommendem
Was dasselbe ist. Kleid aus kaltem Feuer gemacht
Kupfergrün und tief Weichselrot der Madonna
Die Rechte am Herzen stehe ich
Hinter mir zwei drei Kerzenhalter
Das kleine quadratische Fenster oben im Sturm
Jenseitiges und Zukünftiges."

In diesen Strophen zeigt sich die enge Verwobenheit der verschiedenen Zeiten, die alle im Augenblick des Gedichts gegenwärtig sind. Die Vergangenheit bietet in ihrer Kontinuität zur Gegenwart das Potential auf Künftiges und Jenseitiges. Sich in dieses stille Gefüge aus Beziehungen und Erinnerungen über die Generationen hinweg einzuschreiben, diesem Anliegen gilt das Bemühen von Elytis. Es ist das Vertraute, das über den Abgrund der sich verändernden Zeit die notwendige Konstanz ermöglicht, die auch den "Platz in Kommendem", den der Dichter für sich und sein Werk fordert, bestimmt. Insbesondere die Vergangenheit reicht dem Dichter die Hand und führt ihn in das unberührte Land der Zukunft, analog der Kurzformel Odo Marquards "Zukunft braucht Herkunft".

Doch ist dieser Zusammenhang der Dauer ein immer schon zersprungener, der durch die Übermacht des Todes und des möglichen Scheiterns affiziert ist. Elytis schwankt in der Beurteilung des von ihm dichterisch Erreichten. Das nahende Ende seines Lebens und der damit zwangsläufig einhergehende Abbruch seines Oeuvres bewirken bei ihm eine ambivalente Haltung, die sich teils aus Zuversicht und teils aus einem geschärften Sinn für die Vergeblichkeit alles Menschlichen speist. Um das zu demonstrieren, sei eine Textstelle aus dem Gedicht "MITTERNACHT VORBEI" angeführt:

"Mitternacht vorbei in meinem ganzen Leben
Wie auf abgesunkener Milchstraße schwer mir der Kopf
Die Menschen mit dem Silbergesicht schlafen. Heilige
Ihrer Passionen ledig treibt sie der Wind unablässig
Weithin bis zum Kap des großen Schwans. Wer hatte Glück,
wer nicht
Und später?
Wir alle haben das gleiche Ende zurück bleiben
Ein bitterer Geschmack und in dein unrasiertes Gesicht
Geritzte griechische Ziffern bemüht sich ineinander zu
fügen bis
Das Wort deines Lebens das eine falls ...
Mitternacht vorbei in meinem ganzen Leben"

Die Zeile "Das Wort deines Lebens das eine falls ..." betont noch einmal die eminente Rolle, die die Sprache als eine Form des gelingenden Lebens spielen kann, wenn das richtige Wort gefunden ist. In der Dichtung liegt die Kraft, selbst das Unumgehbare, den Tod, noch einmal in der Schwebe zu halten und damit auf sprachlicher Ebene zu transzendieren. Im letzten Gedicht der "Oxópetra-Elegien" mit dem Titel "LETZTER DER SAMSTAGE" beschreibt Elytis das Sterben in dem eindrucksvollen Bild des von der hiesigen in eine neue Welt Verwehtwerdens.

"Psss ... aber niemand, niemand kennt sich aus. Nicht einmal
der Wind
Wenn er es ist der dich beim Denken zum Wahnsinn treibt.
Glaubwürdig wirst du aus dir selbst
Weil
Deine Hände an Baumgärten gewöhnt waren wo
Die See einbricht und wieder weicht blumenübersät
Es bläst, bläst und kleiner wird die Welt. Es bläst
Bläst und größer wird die andere. Der Tod die offene See
Blau und grenzenlos
Der Tod die Sonne ohne Untergang."

Der Tod wird als ein unbegrenztes Element geschildert. Auch hier verweist Elytis auf die einfache Erfahrungswelt seiner Umgebung, die er aber in unvergessliche Bilder verdichtet. Der Tod wird als ein Abdriften zu neuen Ufern gefasst, eine Metapher, die zugleich die Ängste, aber mehr noch die Entdeckerlust eines Seefahrervolkes heraufbeschwört. Wer unbekannte Kontinente zu entdecken trachtet, muss das Risiko in Kauf nehmen und sich dem Spiel der Elemente überlassen. Elytis setzt den Tod als einen weiteren Spielzug in diese Reihe ein und erinnert den Leser an den Ausdruck der Römer, die das Sterben als ein "ad plures ire" verstanden. Zugleich reflektiert Elytis mit dem von ihm gebrauchten Bild des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits aber auch die antike griechische Mythologie, in der die Toten ebenfalls in den Hades übergesetzt wurden. Zudem wird der Leser erneut von Bildern des Surrealismus eingefangen, denn die unendlichen Horizonte von Yves Tanguy oder Salvador Dalì oder die "Toteninsel" des von ihnen bewunderten und zitierten Vorläufers Arnold Böcklin treten vor das geistige Auge. Elytis rundet mit diesen letzten Zeilen den Zyklus zu einem Werk ab, mit dem er sich selbst einen Rang als Klassiker der modernen griechischen Lyrik erobert hat.

Der zweite Zyklus "Westlich der Trauer" hat einen geringeren Textumfang, umfasst aber nochmals sieben Gedichte. Diese stecken ein breites Themengebiet ab, dass sich allerdings nicht mehr zu einer Einheit zusammenbinden lässt. Das mag zum einen daran liegen, dass Elytis im Bewusstsein der befristeten Lebenszeit nicht mehr die ausführliche Entfaltung der Inhalte als wesentlich ansah, zum anderen mag es der einfachen Tatsache geschuldet sein, dass der Anspielungsreichtum der Gedichte über die Verwurzelung im eigenen Oeuvre gespeist wird. Dieses erlaubt eine Dichtung, die sich für den Rezipienten äußerst voraussetzungsreich gestaltet. Erleichtert wird der Zugang allerdings durch die gegebene Nähe zu den "Oxópetra-Elegien", die sowohl im wiederholten thematischen Rückgang auf die griechische Mythologie und Geschichte gegeben ist, als auch an den wieder verwendeten Metaphern festgemacht werden kann. Und doch wird das Verstehen durch den durchwegs kryptischen und assoziationsreichen Duktus dieser Gedichte erschwert. Trost findet der Leser jedoch darin, dass Elytis das Verständnis von Dichtung - folgt man dem, was er im letzten Gedicht des Bandes mit dem Titel "WIE ENDYMION" über Dichtung sagt -, weniger auf der erkenntnistheoretischen, als vielmehr auf der moralischen Ebene ansiedelt:

"Was bleibt ist Dichtung allein.
Dichtung. Gerecht und wesentlich und direkt
Vielleicht wie in der Vorstellung der ersten Menschen
Gerecht in der Würze des Gartens und unfehlbar in der Zeit."

Der Gedicht-Band fügt sich nahtlos in das hohe Niveau der "Bibliothek Suhrkamp" ein, in der die Klassiker der Moderne ihren Platz gefunden haben. Für das Verständnis der neugriechischen Lyrik bildet dieses Buch einen Meilenstein. Die äußere Aufmachung folgt der eleganten Schlichtheit der zu Recht gerühmten Fleckhaus-Gestaltung und die Gedichte sind auf Griechisch und Deutsch abgedruckt. Auch der des Griechischen wenig Kundige verirrt sich so zwangsläufig in den Originaltext und erfährt dadurch dessen Schönheit. Einziges Manko ist der allzu schlanke Anmerkungsapparat, der dazu führt, dass man sich als Leser manchmal etwas verloren glaubt im Assoziationsdschungel dieser Dichtung.

Titelbild

Odysseas Elytis: Oxopetra. Westlich der Trauer. Späte Gedichte des Nobelpreisträgers.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
100 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3518223445

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