Gott wird gebraucht

Für den Pragmatisten William James zählt, was Früchte trägt

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

William James (1842-1910) ist neben Charles Sanders Peirce der Hauptvertreter des philosophischen Pragmatismus. Sein vor hundert Jahren erschienenes Buch über "Die Vielfalt religiöser Erfahrung", hervorgegangen aus den in Edinburgh zuvor gehaltenen Gifford-Lectures, fand überall große Anerkennung und Bewunderung - auch in Deutschland. Heute gehört es zu den klassischen Werken der Religionspsychologie - zu Recht, wie die Lektüre zeigt. Es ist nämlich nicht nur von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung, sondern auch von unverminderter Aktualität sowie von eindrucksvoller Plausibilität und Verständlichkeit.

William James betrachtet in diesem Buch religiöse Erfahrungen als innerpsychische Prozesse und stellt Funktion und Wichtigkeit des religiösen Glaubens für das Gesamtleben des Menschen deutlich heraus. Da sich seiner Meinung nach religiöses Leben nur im Raum der Erfahrung Geltung verschafft, konzentriert er sich bei seinen religionsphilosophischen Überlegungen ganz auf die Beobachtung lebensweltlicher Phänome, statt sich auf die Suche nach einem logisch geführten Gottesbeweis zu begeben. Um seine Leser an seinen Beobachtungen teil haben zu lassen, hat er eine fast überbordende Fülle konkreter Fallgeschichten, die subjektives religiöses Erleben oft in extremer Form zur Sprache bringen, in sein Werk mit einfließen lassen. Manche Berichte zeugen geradezu von Auswüchsen von Frömmigkeit und Gottergebenheit.

Anhand all dieser Dokumente befasst sich James ausführlich mit Bekehrung, Wiedergeburt, Gnadenempfang, Erlangung von Gewissheit, mit dem Leben von Heiligen, ferner mit der Melancholie, die ein wesentliches Element der religiösen Entwicklung ausmacht, mit dem Glück, das ein gewachsener Glaube schenkt, sowie mit tranceähnlichen Erkenntniszuständen, von denen religiöse Mystiker berichten, und wendet sich zu guter Letzt auch der Religionsphilosophie zu. Immer wieder lenkt er die Aufmerksamkeit auf konkrete Beobachtungen. Dabei entdeckt er in der Vielfalt religiöser Erfahrungen Übereinstimmungen zwischen bestimmten Frömmigkeitsformen und gewissen Charakterstrukturen und kommt zu der Schlussfolgerung, dass die sichtbare Welt Teil eines geistigen Universums ist und das Göttliche für einen Erfahrungsbereich steht, für den es keine klar abgegrenzten Begriffe gibt.

Zu einer Religion gehören - das geht ebenfalls aus vielen Selbstzeugnissen hervor - ein Gefühl der Geborgenheit und eine friedliche Grundstimmung sowie überwiegend liebevolle Empfindungen gegenüber Mitmenschen.

Natürlich bringt religiöse Erfahrung, erkennt James, "spontan und unvermeidlich Mythen, Aberglauben, Dogmen, Glaubenssätze und metaphysische Theologien hervor sowie Kritik an einem dieser Regelwerke durch Anhänger eines anderen." Gleichwohl hält der Philosoph den Versuch, auf dem Weg der reinen Vernunft die Echtheit religiöser Befreiungserlebnisse zu demonstrieren, für absolut hoffnungslos. Doch könnten selbst nicht-religiöse Menschen die Ergebnisse religiöser Erlebnisse genauso vertrauensvoll respektieren wie blinde Menschen die Tatsachen der Optik. Zudem räumt das Vorhandensein mystischer Zustände mit dem Anspruch nichtmystischer Zustände auf, sie allein seien die einzige und letzte Wahrnehmungsinstanz.

Für James sind die religiösen Antriebe organisch bedingt und stehen in einem Zusammenhang mit anderen Prinzipien des gesunden Menschenverstandes. Religiöse Liebe beispielsweise sei nur eine besondere Form des natürlichen menschlichen Gefühls der Liebe, das sich auf ein religiöses Objekt richtet. Jedoch gibt es kein einheitliches, elementares religiöses Gefühl, sondern nur einen gemeinsamen Fundus von Emotionen, den religiöse Objekte auslösen können. Sogar die glühendsten Bekämpfer des Christentums offenbarten nicht selten eine Gemütsverfassung, die psychologisch betrachtet, von religiösem Eifer nicht zu unterscheiden sei.

Eine "Neugeburt" kann somit auch von der Religion weg zum Unglauben führen, von moralischer Verklemmtheit zu Freiheit und Freizügigkeit, wie das bei dem französischen Philosophen Jouffroy der Fall war, der ein beredtes Zeugnis seiner persönlichen Gegenbekehrung hinterlassen hat.

James, der zeit seines Lebens mit der institutionellen Religion mit Priestern und Sakramenten nichts im Sinn hatte, hat bei seinem Studium der Existenzbedingungen von Religion die pathologischen Aspekte ebenfalls mit in Augenschein genommen. So weist er darauf hin, dass George Fox, der Gründer der Religion der Quäker, ein ausgesprochener Psychopath war, ähnlich wie Saulus der spätere Paulus, der nach einem epileptoiden, wenn nicht gar epileptischen Anfall zum Christentum fand.

Letzter Prüfstein für den Wahrheitsgehalt einer Anschauung, legt James dar, ist indessen nicht ihre Herkunft, sondern die Art und Weise, wie sie sich auf das Ganze auswirkt. Auch hier gilt die Devise: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln." Wir verfügen über kein äußeres Zeichen, das uns einen untrüglichen Beweis für das Wirken der Gnade geben könnte. Allein unser Handeln ist das einzige sichere Zeugnis, dass wir wahre Christen sind. Der Nutzen der Religion für das religiöse Individuum und der Nutzen des religiösen Individuums für die Welt sind, nach Ansicht von James, die besten Argumente dafür, dass Religion etwas Wahres enthält und den Einzelnen leicht und glücklich macht. (Dass ein religiöses Individuum, wenn es fundamentalistisch eingestellt ist, allerdings auch Schaden anrichten kann, wird von James nicht mit bedacht.) Für ihn ist die Religion in erster Linie ein wesentliches Organ unseres Lebens und gehört wegen ihres außerordentlichen Einflusses auf das Handeln und die Leidensfähigkeit zu den wichtigsten biologischen Funktionen der Menschheit. William James zitiert in diesem Zusammenhang einen seiner Kollegen, den amerikanischen Psychologen Leuba, der einmal gesagt hat: "Gott wird nicht erkannt, er wird nicht verstanden, er wird gebraucht."

Allerdings könne kein Organismus seinem Besitzer die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle liefern. Da das Universum mehr Seiten hat als ein Einzelner wahrnehmen könne, machten verschiedene Typen auch verschiedene religiöse Erfahrungen. Wissenschaft und Religion seien zwar echte Schlüssel, die Menschen, die sie zu nutzen verstünden, das Schatzhaus der Welt aufschlössen. Aber offensichtlich ist keiner von ihnen erschöpfend oder schließt die Benutzung des anderen aus. Warum sollte die Welt nicht so komplex sein, dass sie aus vielen, sich gegenseitig durchdringenden Realitätssphären besteht, fragt sich James und votiert für eine pluralistische Auffassung. Menschen, die sich eines geistig gesunden Denkens erfreuten, bedürften zum Beispiel einer anderen Religion als jene, die das Böse und die Sündhaftigkeit des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen und Befindlichkeit gestellt hätten. Während die einen mit einer harmonischen und gut ausbalancierten inneren Konstitution zur Welt kommen und in ihrem Leben selten von Reue heimgesucht werden, geht die Verfassung anderer in die Gegenrichtung, in Abstufungen von schrulligen Unstimmigkeiten bis hin zur inneren Zerrissenheit. Alles hänge eben davon ab, wie empfindlich die Seele auf Missstände reagiert. Je mehr man sich buchstäblich verloren fühlt, desto mehr ist man bereits das Wesen, das durch das Opfer Christi gerettet wird. Das Göttliche stehe mithin für eine Gruppe von Eigenschaften, weil die Menschen verschieden seien und dementsprechend auch verschiedene Bedürfnisse und verschiedene Erfahrungen hätten. Letztlich seien wir alle, gibt der Philosoph zu bedenken, hilflose Versager. Der Tod wird selbst die Kräftigsten unter uns niederstrecken. Irgendwann spürt jeder einmal ein Gefühl von Vergeblichkeit und Vorläufigkeit. Hier kommen uns die Religionen zu Hilfe und bieten uns die Chance zur Erlösung.

Wie Peter Sloterdijk in seinem Vorwort darlegt, war für William James durch sein melancholisches Naturell offenkundig jede Flucht in einen positiven Glauben von vornherein versperrt. Doch sah er durch seine Pragmatisierung des Wahrheitsbegriffs, wonach wahr ist, was im Leben Früchte trägt, eine Chance für den Einzelnen, die Rettung verheißt. Als behutsamer Pluralist wüsste er zwar, dass nicht alles gelingt, aber auch nicht alles verloren geht. "Das Herz lebt in Chancen" - allein darauf gründete er seine Hoffnung.

Nebenbei: Da William James viele bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten erwähnt und zitiert, hätte seinem Buch ein Personenregister wohl angestanden.

Titelbild

William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung.
Übersetzt aus dem Englischen von Eilert Herms, Christian Stahlhut.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
581 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3458168524

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