Die Verrücktheit eines ausgewachsenen Mannes mit dem Hirn eines Mafioso unter der Schädeldecke eines Kindes

Jacques Lederers Roman "Groß und Klein" führt ins Jahr 1942 zurück

Von Sandra JacobiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Jacobi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein kleines Buch mit großer Wirkung: Ergreifend erzählt Jacques Lederer die Geschichte einer ungewöhnlichen Täter- Opfer-Beziehung zur Zeit des zweiten Weltkrieges. Lederer war selbst ein Kriegsopfer und hat einen Großteil seiner Familie in Lagern verloren. In seinem Roman "Groß und Klein" geht es vordergründig aber nicht um die Konzentrationslager und Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs, sondern um einen anderen, kleinen, privaten, deshalb aber nicht weniger angsteinflößenden Krieg. Ein Krieg, in dem Sieger und Besiegter scheinbar von vornherein feststehen ...

Das Jahr 1942: Die deutsche Wehrmacht hält Paris besetzt. Doch für einen siebenjährigen jüdischen Jungen sind es nicht der Krieg und der Judenstern, die sein Leben unmittelbar überschatten. Seine ganz persönliche Bedrohung ist der Sitznachbar in der Schule. Äußerlich geben die auf " Sigrand" und "Sip'tit" - Groß und Klein - getauften Jungen zwar aufgrund ihrer unterschiedlichen Körpergröße ein eher komisches Gespann ab. Tatsächlich basiert ihre Beziehung jedoch auf blankem, brutalem Ernst: Sigrand entdeckt Sip'tits jüdische Abstammung und erpresst ihn zum Gehorsam. Grausam, brutal und berechnend lebt der scheinbar Verrückte seine krankhaften Fantasien an seinem Opfer aus. Den physischen und psychischen Quälereien werden erst ein Ende gesetzt, als Sip'tit mit seiner Mutter aufgrund einer drohenden Verhaftung fliehen muss. Doch das ungleiche Paar begegnet sich schließlich wieder. Sip'tit entdeckt seinen ehemaligen Peiniger, den Judenstern tragend, inmitten von anderen jüdischen Kindern, die zur Deportation fertig gemacht werden. Sigrand ist selbst Jude und wird Jahre später als einer der wenigen Überlebenden nicht nur Sip'tit in Erinnerung rufen, was mit Juden im Nationalsozialismus zu geschehen hatte ...

Die zweite Begegnung stellt das überraschendste und unglaublichste Moment des Romans dar. Doch ist es nicht allein diese unerhörte Begebenheit, die beeindruckend und nachhaltig wirkt. Lederers Ich-Erzähler berichtet bewegend und unverblümt von einem Strudel aus Angst, Faszination und Wahnsinn. Nahezu grotesk ist das von Sigrand unternommene Ritual in einer Synagoge, Sip'tit dem "rechten" Glauben zuzuführen. Und wenn in einer harmlosen Unterrichtsstunde plötzlich ein Messer durch Sip'tits Hand gejagt wird und er wenig später in einem nachgestellten historischen Gerichtsprozess mit einer Axt geköpft werden soll, wird die Bedeutung der ersten beiden Sätze des Romans umso deutlicher: "Sigrand machte mir eindeutig mehr Angst als Gestapo, SS und Wehrmacht zusammen. Nicht einmal entfernt reichten sie an ihn heran." Doch Lederers Roman ist kein düsteres Portrait einer vom Krieg und Gewalt gezeichneten Kindheit. Gewiss machen die Unbegreiflichkeit der Brutalität und Unterdrückung sprachlos, und die mit ihnen einsetzende Ergebung und Machtlosigkeit rufen Mitleid hervor. Doch bleibt aufgrund des naiven, trockenen und streckenweise auch humorvollen Erzählstils stets ein Gefühl der Distanz erhalten. Ein absolut lesenswertes Buch, das die Balance hält zwischen Beklemmung und Ausblick, zwischen Anklage und Verständnis.

Titelbild

Jacques Lederer: Groß und Klein. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Juliane Gräbener-Müller.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
111 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3498039172

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