Von der Unmöglichkeit, historisch zuwerden

Zu einem Sammelband über 'Erinnern' und 'Erben' in Deutschland

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die in den letzten Jahren zu beobachtende Konjunktur geschichts-, kultur- und literaturwissenschaftlicher Publikationen zum Thema "Gedächtnis und Erinnerung" steht offenkundig in unmittelbarem Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um 'legitime' und 'illegitime' Formen kultureller Vergegenwärtigung und mit Fragen der Aufbewahrung und Dokumentation von Vergangenem. Erinnern und das 'angemessene' politische und ästhetische Sprechen "nach Auschwitz" sind in den deutschen Monumentaldebatten gleichermaßen präsent wie virulent.

Ein wesentlicher Grund für die Valenz dieses Themas ist in dem Umstand zu sehen, daß ein kompletter kollektiver Gedächtniszusammenhang im ausgehenden 20. Jahrhundert einem durchgreifenden Wandel unterliegt und damit fragil wird: Die Generation der Augenzeugen, Täter und Opfer des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs, stirbt langsam aus, und es meldet sich eine junge Generation zu Wort, für die der Nationalsozialismus nicht Gegenstand der persönlichen Erinnerung, sondern Aspekt der Geschichte ist. Zieht man die bekannte Konzeption von Jan Assmann (Das kulturelle Gedächtnis, München 1992) zurate, dann befindet sich die Erinnerung an die Katastrophen und Verbrechen der Jahrhundertmitte in einem Übergang von einem "kommunikativen", gelebten zu einem symbolisch vermittelten und medial fixierten "kulturellen" Gedächtnis. Verbürgte Geschichte als 'große Erzählung' (Lyotard) hat allem Anschein nach ihre identitätsstiftende und verbindende Kraft verloren.

Diese "Krise" des Gedächtnisses ist auch Anlaß für den vorliegenden Sammelband, der aus einer Kasseler Veranstaltungsreihe zum Thema "Erinnern und Erben in Deutschland" hervorgegangen ist. Die beiden Verbformen "erinnern" und "erben" verweisen dabei auf "das nicht Abgeschlossene", "den Prozess, der einen undefinierbaren Ort konturiert". In bunter und beeindruckender Vielfalt ist der Band - in Anlehnung an das Schema von Raul Hilberg - auf die Perspektiven von Opfer, Täter und Zuschauer sowie ihre Nachkommen fokussiert. Die Interdependenz zwischen einem grundlegenden Wandel des kulturellen Gedächtnisses auf der einen und einem evidenten Generationswechsel auf der anderen Seite führt zu der Feststellung, "das kollektive Gedächtnis [...] nur im Plural zu verstehen", da "jede Generation, und darin wiederum jede Gruppe [...] über ihre eigene Erinnerung, ihr eigenes Erbe" verfüge, wie Eva Schulz-Jander stellvertretend für die anderen Herausgeber in ihrer Einleitung formuliert.

Der Sammelband ist in vier Abschnitte unterteilt, von denen jeder durch einen lyrischen Text eingeleitet ist. Der erste Teil beschäftigt sich mit Reflexionen über die Schnittstellen zwischen Erinnern und Vergessen, in denen das Archiv als "materielles Gedächtnis einer Gesellschaft" (Aleida Assmann) einer - primär an dem jüdischen Gedächtnisbegriff orientierten - anamnetischen Erinnerungskultur gegenübergestellt wird. Christoph Münz' anregende Deutung der Vernichtung der europäischen Juden als "Mnemocid", als "Gedächtnismord", hebt dabei die Geschichtsvergessenheit und Erinnerungsfeindlichkeit christlich geprägter Kultur hervor. Angesichts der Erschöpfung universeller Moral in Europa und einer "Unkultur des Vergessens" bedürfe es einer Gedächtniskultur, um "die Vergangenheit in einem existentiell-ganzheitlichen Sinne wieder-zu-vergegenwärtigen, zu repräsentieren".

Im zweiten Teil des Bandes kommen unterschiedliche individuelle Erfahrungen zu Wort, gleichsam "Erinnerungssplitter" und Dokumente persönlichen "An-Denkens", die in ein bewußtes Spannungsverhälnis zu Formen öffentlichen "Ge-Denkens" gesetzt werden. Mit letzteren setzt sich der nachfolgende dritte Teil auseinander. Aleida Assmann thematisiert in ihrem Beitrag den "Scheitel von Erinnerung und Geschichte", indem sie die nicht unproblematischen Leitbegriffe "Erinnern" und "Erben" einer reziproken Lesart unterzieht. Diese Kontrastierung führt zu dem allerdings nicht sonderlich überraschenden Ergebnis, daß "das kulturelle Erbe [...] ein generationen- und epochenübergreifendes Gedächtnis" ermögliche und fordere. Weiterführender ist allerdings ihre Reformulierung eines Plädoyers von Avishai Margalit, "die Bewahrung der Tradition von der Erinnerung an sie zu unterscheiden", was gerade im Zusammenhang der jüngsten Debatten um die Konzeption des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas von eminenter, aber oft vernachlässigter Bedeutung ist. Ein Gespräch der Kasseler Sozialgerontologin Birgit Jansen mit dem israelischen Psychoanalytiker Dan Bar-On sowie die auf verschiedene Perspektiven zielenden Beiträge von Evelyn Friedlander, Heinz Bude, Volkhard Knigge, Horst Hoheisel und Esther Dischereit komplettieren diesen Teil im Hinblick auf eine gegenwärtige gesellschaftliche Relevanz und einen zukünftigen Umgang mit dem Begriff der Erinnerung.

Der abschließende vierte Teil artikuliert unterschiedliche pädagogische Konzepte einer Erziehung nach Auschwitz, die nachhaltig von der unterschiedlichen und in sich stark differenten Holocaust-Rezeption in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands bestimmt werden. In ihren Überlegungen zu den "symptomatischen Fehlleistungen des Berliner Denkmalprojekts", das zwischen der Zeichen-Setzung einer nationalen deutschen Identität und einem Denk-Mal zur Erinnerung an die ermordeten Juden Europas oszilliert, kritisiert Silke Wenk evidente Tendenzen einer "Sakralisierung der [nationalsozialistischen] Verbrechen". Der bisherige Verlauf der Diskussionen um ein "zentrales, deutsches Denkmal" zelebriere die Vernichtung der Juden als "Sacrificium für eine Zukunft jenseits von Geschichte" und führe zu einer Konsolidierung eines "'erneuerten' Deutschland".

Der für die documenta X konzipierte und realisierte Beitrag der israelischen Künstlerin Penny Yassour ("Mental Maps - Involuntary Memory") kommt - in Anlehnung an Marcel Prousts Begriff einer mémoire involontaire - abschließend zu dem Ergebnis, "that histories become active and present as experience and not only as knowledge, even when absent, creating a situation imbued with relevance, as time filled with the present. [...] And so it becomes possible to expand the marginal, contract the 'cardinal', disrupt the continuity, increase/decrease the density or present the absent." Das künstlerische Einritzen der Erinnerungsspuren in das kulturelle Gedächtnis Deutschlands und Israels, hier: das Streckennetz der Reichsbahn mit der Allusion der KZ-Transporte quer durch deutsches Reichsgebiet, markiert die Unauslöschlichkeit und Unabschließbarkeit der Vergangenheit.

Nachdrücklich erinnern uns die lesens- und bedenkenswerten Beiträge an die Unmöglichkeit der Versuche, den Holocaust historisch werden zu lassen, ihn gleichsam stillzustellen. Der Sammelband unterstreicht eindrucksvoll, daß die mit dem Holocaust gegebenen Fragen offengehalten werden müssen und jede Antwort, die der Geschichte einen 'Sinn' abzuringen versucht, fragwürdig bleiben muß. Die von den einzelnen Beiträgern dieses Bandes immer wieder in den Mittelpunkt gerückte 'anamnetische Ethik' schärft gerade an der Schwelle des neuen Jahrhunderts das Bewußtsein dafür, daß jedem Wissen ein Nicht-Wissen, jeder Erinnerung ein Vergessen und jeder Kohärenz der menschlichen Sprache nach Auschwitz ihre Inkohärenz eingeschrieben ist.

Titelbild

Birgit Jansen / Eva Schulz-Jander / Angelika Trilling: Erinnern und Erben in Deutschland. Versuch einer Öffnung.
Euregio Verlag, 1999.
328 Seiten, 30,20 EUR.
ISBN-10: 3933617030

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