Krieg und Spiel

Shan Sa schildert zwei Schicksale zwischen China und Japan

Von Ingo VollenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingo Vollenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nach der Schule gehen wir auf den Platz der Tausend Winde. Das Go-Spiel treibt mich voran in ein Universum der Bewegung. Die Figuren, die sich ständig neu ergeben, lassen mich die Plattheit des Alltags vergessen." Ungeschlagen gibt sich eine junge Chinesin ihrer Leidenschaft für das Go-Spiel hin. Im Jahr 1937 in der Mandschurei ist es nicht immer einfach den Alltag zu vergessen. Die Japaner versuchen das Land einzunehmen, und auch wenn das Mädchen zunächst nicht viel vom aufbrausenden Krieg realisiert, kämpft es mit den traditionellen Vorgaben von Familie und Kultur, die einer Frau das Erwachsenwerden nicht einfach machen.

Die wichtigen Jahre, die aus einem Mädchen eine Frau machen, in denen die junge Chinesin ihrem Cousin Lu die Liebe verwehrt, ihre Freundin Huong gegen die gemeinen Vorgaben ihrer Eltern aufstachelt, ihrer Schwester zwischen Liebe und Eifersucht zu ihrem Schwager beisteht und die beiden Studenten Jing und Min kennen lernt und mit ihnen die ersten Erfahrungen in der körperlichen Liebe sammelt - dies ist der Mittelpunkt der Geschichte, eingebettet in den Rahmen eines Krieges zwischen zweier Nationen. Oder etwa nicht? Ist es nicht vielmehr die Geschichte eines jungen Japaners, der aus seinem Heim aufbricht mit der Vorstellung, die ehrenvolle Geschichte seiner Ahnen weiterzuführen, der Mutter und Geschwister in Trauer zurück lässt mit der Gewissheit, zwischen Feigheit und Tod immer letzteren zu wählen.

Eine klare Hauptfigur gibt uns die chinesische Autorin Shan Sa ihrem Buch "Die Go-Spielerin" nicht. In ihrem bisher dritten Roman präsentiert sie uns einen stetigen Wechsel zwischen den beiden sehr unterschiedlich wirkenden Charakteren. In den kurzen Kapiteln wechseln nicht nur der Schauplatz, sondern auch die Perspektive des Erzählers. Mal erleben wir die Welt aus der Sicht des Mädchens, das unter elterlichem Einfluss steht, die nach längerem Aufenthalt in der westlichen Welt ihrer Tochter zumindest ein recht modernes Weltbild für die damalige Zeit vermitteln. Dann wieder steht der junge Soldat im Mittelpunkt, der im Krieg für seine Nation die Erfahrung des Todes wieder und wieder verarbeitet, auch am Rande des eigenen Sterbens. Das Wechselspiel der beiden präsentiert zwei völlig unterschiedliche Welten und Mentalitäten, die sich getrennt von einander entfalten.

Verbunden jedoch werden die Figuren durch die unerfüllte Suche nach Liebe, der sie nur in körperlichen Erlebnissen zumindest nahe zu kommen scheinen. Während der japanische Soldat seine Erfahrungen mit Prostituierten sammelt und durch eine gewissen Faszinationen für junge Geishas entwickelt, trifft das chinesische Mädchen auf den Rebellen Min, der sich ihr als Student offenbart. Er und sein bester Freund Jing reizen sie. Die Konkurrenz der beiden, die ihr nach und nach immer mehr verfallen, zieht sie in den Bann. Doch stets bleibt ihr die Gewissheit, dass es sich nicht um Liebe handelt. Sie verliert ihre Unschuld an Min, will ihm aber ebenso wenig wie seinem Freund ihr Leben und ihre Zukunft schenken.

Nachdem die ersten Seiten des Romans den Leser durch den Wechsel der Perspektiven sicherlich verwirren, bringt dieser mit der Zeit doch einen angenehmen Rhythmus mit sich, auf den man sich einlassen sollte. Sicherlich erregen beide Schicksale ein gewisses Interesse beim Lesen, doch unweigerlich stellt sich bald die Frage: Werden die Schicksalswege der Charaktere sich kreuzen oder nicht? Und so ist es fast schon unerträglich, dass die Autorin bis knapp zur Hälfte ihres Werkes keinen Anhaltspunkt für ein Zusammentreffen gibt. Doch als plötzlich der japanische Soldat mit seinem Hauptmann eine Partie Go spielt, ist der Hinweis gefallen. Er wird als Spion auf den Platz der Tausend Winde geschickt um dort verkleidet mögliche Rebellen zu identifizieren. Dort endlich kreuzen sich die Wege der beiden Protagonisten beim Go-Spiel. Die junge Chinesin fordert den getarnten Japaner frech heraus, und dieser kann nicht widerstehen. Ohne Worte verläuft das Spiel, doch sowohl die Gedanken als auch die Ereignisse überschlagen sich um sie herum.

Was ihnen bisher niemand geben konnte, finden sie im Spiel miteinander: Erfüllung und sogar Liebe. Doch die Tragik spitzt sich immer mehr zu. Sie müssen Stellung in dieser Zeit des Krieges beziehen. Das tragische Wegbrechen der Fassade scheint vorprogrammiert, doch Mal für Mal treffen sich die beiden wieder, um ihr Spiel aufzunehmen. Die Treffen werden dabei aus den unterschiedlichen Perspektiven dargestellt, ihre Gedanken lassen sich in einer beeindruckenden Tiefe nachvollziehen.

Auch wenn "Die Go-Spielerin" sehr langsam in Fahrt kommt, ist es doch gerade die Zeit, die sich die mittlerweile in Frankreich lebende Autorin Shan Sa für ihre Figuren lässt, die dem Ganzen am Ende eine enorme Tiefe und Spannung verleiht. Belohnt wurde dies mit dem Prix Goncourt des Lycéens und großer Anerkennung in Frankreich. Sicherlich nicht ungerechtfertigt, denn eine solch poetische Erzählung, die ebenso die Unbarmherzigkeit des Krieges wie die Grausamkeit der Selbstaufopferung schildert, findet man nicht oft. Dazu immer wieder der Zauber des Go-Spieles - ein Spiel ebenso wie eine Konfrontation und die Verbindung zwischen Gegnern und Freunden.

Titelbild

Shan Sa: Die Go-Spielerin. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elsbeth Ranke.
Piper Verlag, München 2004.
156 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 349224033X

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