Ein faszinierendes Kapitel der Literaturgeschichte

Willi Jasper über dreihundert Jahre deutsch-jüdischer Literatur

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl der Begriff „jüdische Literatur“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Leopold Zunz und anderen Gelehrten der „Wissenschaft des Judentums“ geprägt und keineswegs von Antisemiten erfunden worden ist, wurde er später, insbesondere in der Nazizeit, rassistisch besetzt. Nach 1945 hat ihn dann die Germanistik, ohne selbstkritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Verfehlungsgeschichte, stillschweigend aus dem Verkehr gezogen. Stattdessen sprach man lieber von dem „Beitrag“ oder dem „Anteil“ jüdischer Autoren an der deutschsprachigen Literatur oder in unklarer Definition von „deutsch-jüdischer Literatur“.

Willi Jasper – er ist Mitarbeiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Professor der Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam – greift, statt sich einer dieser Verlegenheitslösungen zu bedienen, auf das Bild vom „Deutsch-jüdischen Parnass“ zurück, um die enge Wechselwirkung zwischen jüdischer und deutscher Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart in aller Ausführlichkeit kompetent und fundiert zu beleuchten, wobei er im Diskurs deutsch-jüdischer Literatur drei Schwerpunkte wahrnimmt: die Krise der Assimilation, das Exil und den Holocaust. Viele Werke, die Juden verfasst haben, schreibt der Autor, verbindet die Suche nach einer jüdischen Identität. Gleichwohl verlange die Verschiedenartigkeit der jüdischen Literatur in deutscher Sprache, die von Moses Mendelssohn und Ephraim Moses Kuh über Ludwig Börne und Heinrich Heine bis Franz Kafka, Stefan Zweig, Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Paul Celan und Jurek Becker reicht, Differenzierungen von Fall zu Fall. Auch könne nicht jeder Roman, der in der Moderne von einem Juden geschrieben wurde, zur jüdischen Literatur gezählt werden. Denn mancher Dichter und Schriftsteller, der seiner Herkunft nach jüdisch ist, habe sich selbst nie als Jude definiert. Ein sinnvolles Auswahlkriterium könne hier wohl nur, meint Jasper, die jüdische Thematik sowie die jüdische Tradition sein, aus der heraus ein Werk verständlich wird.

Moses Mendelssohns allgemeine Literaturkritik, seine Übersetzungen literarischer Texte ins Deutsche und seine Freundschaft mit Lessing betrachtet Jasper als exemplarisch für die zu ihrer Zeit beginnende Öffnung der Juden gegenüber der deutschen Kultur. Gleichzeitig wird Lessings „Nathan der Weise“ zum Inbegriff des „edlen Juden“ und damit auch zu einer wirkungsgeschichtlich problematischen Norm.

Eine andere Art der Hinwendung zur deutschen Kultur findet man bei Autoren, die aus dem Ostjudentum stammen, wie zum Beispiel bei Salomon Maimon oder Isachar Falkensohn Behr. Außerdem werden deutsche Dichtungen der Aufklärung in hebräischer Übersetzung verbreitet.

Als Prüfstein für den Wert der Aufklärung erwies sich die „Judenfrage“. Doch stellten sich alle Hoffnungen auf Gleichberechtigung und Emanzipation der Juden alsbald als trügerisch heraus. Die Idee eines Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in einer einheitlichen Aufklärungskultur scheiterte, nicht zuletzt deshalb, weil an Stelle des universalistischen Denkens der Aufklärung sich bald nationalistisches Denken breit machte. Was Moses Mendelssohn, dem es um die „bürgerliche Verbesserung“ seiner Glaubensgenossen gegangen war, noch mit dem Optimismus des Aufklärers als erstrebenswertes Ziel formuliert hat, nämlich die Möglichkeit, als Jude getreu nach der Verfassung eines jeden Landes und zugleich nach jüdischen Gesetzen zu leben, blieb für die meisten deutschen Juden der folgenden Generationen eine Illusion. Selbst Mendelssohns eigener Sohn Abraham rechtfertigte die Erziehung seiner Tochter zur Christin mit der Erklärung, dass die christliche Religion „die Glaubensform der meisten gesitteten Menschen“ sei. Auch für Kant – und er war nicht der einzige deutsche Philosoph, der so dachte – war es nicht nachvollziehbar, dass Mendelssohn als aufgeklärter Philosoph auf seinem Judentum beharrte.

Gegen die Welle der Konversionen und den wachsenden Einfluss deutscher Philosophen und Theologen, die das Judentum als „historisch überholt“ und „überflüssig“ erachteten, formierten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liberale Rabbiner und systematische Denker wie Salomon Ludwig Steinheim, Salomon Formstecher und Samuel Hirsch. Sie forderten, die deutsche Kultur nur dort anzunehmen, wo sie nicht die Rolle der jüdischen Religion in Frage stelle. Gleichwohl entwickelten sich Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Sozialkontakte zwischen Juden und Nichtjuden in Vereinen, Gesellschaften und Salons, allerdings nur zwischen gebildeten, wohlhabenden Juden und einflussreichen Nichtjuden, in erster Linie zwischen Geschäftsleuten, Angehörigen des Adels, Politikern, prominenten Wissenschaftlern und Schriftstellern. Eingehend und anschaulich führt Jasper seinen Lesern die widersprüchliche Geschichte des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums vor Augen, zu der auch der schon zu Goethes Lebzeiten einsetzende Goethe-Kult zählte. Auf den Weimarer Dichterfürsten Goethe haben deutsche Juden bis zuletzt gebaut – in Deutschland, im Exil und sogar noch in den Todeslagern.

Die Moderne – auch das stellt Jasper deutlich heraus – wurde in all ihren Schattierungen und Tendenzen – man denke nur an den literarischen und künstlerischen Expressionismus – wesentlich von Juden getragen.

Viele Werke von Juden gehören, wie gerade die von Heinrich Heine und Franz Kafka, der Weltliteratur an. Aber mit der Moderne trat auch eine „Antimoderne“ auf den Plan, die sich mit antisemitischen Ressentiments zu legitimieren suchte. Der erste und zugleich wirkungsmächtigste Repräsentant im deutschsprachigen Raum war Richard Wagner, der schon 1850 von der „Verjüdung“ der modernen Kunst sprach.

Ausführlich befasst sich Willi Jasper mit dem intellektuellen und existentiellen Dilemma von Ludwig Börne und Heinrich. Beide waren zugleich Deutsche und Juden und haben es in Deutschland auf dreifache Weise schwer gehabt: als Juden, als Emigranten und als politische Autoren.

Die Mehrzahl der deutschen Juden bemühte sich indessen, unauffällig im Strom der deutschen Kultur zu schwimmen, konventionell, konservativ und patriotisch. Doch der große Beitrag, den Juden zur deutschen Kultur gerade in der Weimarer Republik geleistet haben, ist unübersehbar. 1927 verzeichnete zum Beispiel das „Adreßbuch für den Jüdischen Buchhandel“ rund vierzig jüdische und hebräische Verlage in Berlin. Die Bücherverbrennung im Mai 1933 und die Vertreibung der jüdischen Autoren aus Deutschland beendete abrupt alle hoffnungsvollen Entwicklungen und Ansätze.

Jasper geht auch auf die jüdische Literatur in Deutschland nach 1933 und die Holocaust-Literatur nach 1945 ein. Kaum einer der vertriebenen jüdischen Autoren ist nach dem Krieg zurückgekehrt. Viele starben im Exil, und von den wenigen Überlebenden, die nach der Nazibarbarei kurzfristig nach Deutschland zurückgekommen waren, kehrten nicht wenige, enttäuscht über die unsensible Haltung der Bundesrepublik ihnen gegenüber, diesem Land bald wieder den Rücken. Wohl bemühte sich fast jede größere Bühne in Deutschland unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus um eine Aufführung von Lessings „Nathan“. Doch zumeist seien es unehrliche Inszenierungen gewesen, „die zu Entnazifizierungsritualen verkamen“, schreibt Jasper und zitiert Hannah Arendt, die geklagt hatte, „dass Lessing in der kulturpolitischen Landschaft der Bundesrepublik zu einer festen Bastion des ,Allgemeinmenschlichen‘ vermauert worden sei, in deren Schutz und Schatten von Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit geredet werden konnte, ohne sich der Vergangenheit und ihrer andauernden Gegenwart zu stellen.“

Bei jüngeren jüdischen Autoren steht heute, laut Jasper, nicht mehr die Shoa, sondern die Zeit danach im Vordergrund, wie etwa bei Maxim Biller oder Barbara Honigmann.

Der Autor kommt zu dem Schluss, dass auch für die Literatur die viel zitierte deutsch-jüdische Symbiose ein Mythos war, weil jüdischerseits alle Hoffnungen auf eine gemeinsame Identität an der Ablehnung und Distanz der Deutschen zunichte geworden seien. Willi Jasper hofft auf ein neues europäisch-jüdisches „Projekt der Moderne“, in dem sich auch ein jüdischer Diskurs in den jeweiligen Staaten neu definieren könne.

Festzuhalten bleibt indes, dass Will Jaspers in seinem neuen Buch ein faszinierendes Kapitel der Literaturgeschichte aufgeschlagen hat, das die deutsche Kultur enorm bereichert hat.

Titelbild

Willi Jasper: Deutsch-Jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos.
Propyläen Verlag, München 2004.
526 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3549072104

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