Krankenschwestern & dicke Dinger

Der Erste Weltkrieg in einer aktuellen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Deutschen Historischen Museum (DHM) blühen Klatschmohn-Attrappen. Darüber hängen Exponate der neu eröffneten Ausstellung "Der Weltkrieg 1914-1918. Ereignis und Erinnerung". Der Grund für die merkwürdige Dekoration: Auf den durch Artilleriebeschuss kontaminierten Schlachtfeldern des "Großen Kriegs" war Mohn die erste nachwachsende Pflanze. In England und Frankreich wurde sie deshalb zum Sinnbild gefallener Soldaten und eines hoffnungsfrohen Neuanfangs nach Kriegsende.

Deutschland hatte die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" verschuldet. Dennoch steht die Erinnerung an den Konflikt zwischen 1914 und 1918 hierzulande im Schatten des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Im west- und osteuropäischen Ausland spielt sie dagegen eine zentrale Rolle: In Frankreich feiert man den Tag des Waffenstillstands, den 11.11.1918, bis heute als Nationalfeiertag - und viele der neuen osteuropäischen EU-Staaten gedenken des Kriegsendes als Ursprung wiedergewonnener staatlicher Unabhängigkeit.

Deswegen möchte die Ausstellung des DHM ihr Augenmerk nicht nur auf die berüchtigte "Westfront" und ihren erstarrten, mörderischen Stellungskrieg, sondern erstmals auch auf die Kriegserfahrungen und -folgen in den ost- und südosteuropäischen Ländern richten. Hierbei sollen sogar "die Konfliktpotentiale der Neuordnung Europas und der Balkanregion" fokussiert werden, wie die Presseankündigung verspricht.

Diese verschiedenen europäischen Weltkriegs-"Erinnerungskulturen" zu vergleichen, ist ein ehrgeiziger Ansatz. Dazu prunkt man auf zwei Stockwerken (1500 qm) mit über 700 Exponaten von weit über 100 Leihgebern, u. a. dem Imperial War Museum London und dem Historial de la Grande Guerre, Péronne/Somme.

"Militaristen werden von uns nicht bedient", versprach der Düsseldorfer Historiker Gerd Krumeich, Mitglied des wissenschaftlichen Ausstellungs-Beirats, in der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung. Das ändert freilich nichts daran, dass der Besucher des Museums armdicke durchschossene Stahlplatten, bizarre Nahkampfwaffen, Panzermodelle und die "wirkliche kriegstechnische Revolution des Ersten Weltkriegs" (Krumeich), das Maschinengewehr, sonder Zahl bewundern darf.

In der "Material"-Abteilung thront gar ein mannshohes Projektil jener als "Dicke Bertha" bekannt gewordenen Riesenkanone, die man nach der Tochter des Rüstungsindustriellen Alfred Krupp benannte. Das 930 Kilo schwere 42 cm-Mörsergeschoss gleicht einem stählernen Monumentalphallus. Daneben ließ man auf zeitgenössischen Fotografien weißbekittelte Krankenschwestern posieren, wie Krumeich der staunenden Journaille auf einem ersten Rundgang exklusiv zu berichten wusste.

Doch genauere Erläuterungen derartiger sexualpathologischer Propagandaphänomene, wie sie seit Klaus Theweleits legendärem Standardwerk "Männerphantasien" (1977/78) längst zum Allgemeinwissen jedes dahergelaufenen Hobbyhistorikers gehören, sucht man in der DHM-Präsentation selbst vergebens. Und nicht nur hier wird die Chance einer kritischen historiografischen Aufklärung des Publikums verschenkt.

Die bizarre Privatcollage eines deutschen Gaskriegsspezialisten etwa, der 'dienstliche' Frontbriefe und idyllische Ferienpostkarten zwecks sentimentaler Kriegserinnerung zusammenklebte, hängt hier unerläutert im Schaukasten. Auch die Abteilung, in der an den bezeichnenden Enthusiasmus deutscher Ethnologen erinnert werden soll, fremdländische Kriegsgefangene kurzerhand als willkommene 'Studienobjekte' zu nutzen - eine Praxis, die bereits auf eine der dunkelsten Seiten des späteren NS-Vernichtungskriegs vorausweist - bleibt zum Erstaunen des Betrachters weitgehend unkommentiert.

Man setze auf "die Aura der Objekte, die ihre Geschichte erzählen", erläuterte der Kurator Rainer Rother eingangs sein Konzept. In der Tat: Ein Mohnblumenkranz hier, einige pornografische Wundfotos dort, pompöse Grabsteine, skurrile Rüstungen und der hölzerne "A-Frame" eines ausgegrabenen englischen Schützengrabens bei Ypern - der Besucher durchwandert eine regelrechte Rumpelkammer an sich belangloser Devotionalien. Die räumliche Gliederung der Ausstellung vermag ihre innere Konfusität nicht zu kaschieren.

Überhaupt: Wo ist sie denn nun zu sehen, die vollmundig angekündigte Berücksichtigung einer spezifisch osteuropäischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg? Lediglich in einigen Vitrinen und durch wenige umherhängende Bilder angedeutet, bleibt auch sie eine vernachlässigenswerte Komponente.

Verstört verlässt man zuletzt den gläsernen DHM-Neubau und torkelt benommen in Richtung Friedrichstraße - den Kopf voller Klatschmohn.


Titelbild

Rainer Rother: Der Weltkrieg 1914-1918. Ereignis und Erinnerung.
Edition Minerva, Wolfratshausen 2004.

ISBN-10: 3932353897

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